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Kapitel 7

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Wir starten an der Nord-Ost Ecke der Stadtmauer und gehen in Richtung West zum Schlossturm, dann südwestlich zum Hexenturm und zurück  durch die Mangergasse zum Marktplatz.

60. Oberes Tor ca.1900 (#91). Credit: Sammlung Mitta, Themar.

Dies ist ein Foto von einer alten Ansichtskarte. Als ich ein kleiner Junge war, etwa 4 oder 5 Jahre alt, bin ich mit einem Freund abends mit einem Schlüssel zum Pulverturm gegangen. Wir stiegen gegenseitig auf die Schultern, öffneten eine kleine Pforte auf der Hinterseite, um die Stadtlichter der Stadt anzumachen. Der Vater des Freundes, dessen Namen ich vergessen habe, war für die Lichter verantwortlich. Aber abends war er meistens besoffen und so haben wir es gemacht. Das Tor war ganz in der Nähe [von der Beamtenschule wo sie wohnten].

Danach haben wir eine Tasse Schokolade  voller Brotstückchen und mit Zucker bestreut  bekommen. Das war das Abendessen. Ich erinnere mich, dass es in späteren Jahren keine Schokolade sondern nur heißes Wasser und Zucker gab. Oder es gab nur hausgemachten Kaffee-Ersatz, von meiner Großmutter, den sie aus gerösteter Gerste und Zichorie gemacht hat.

61. Oberes Tor, 1983 (#91). Photo: Arnhold.
62. Schlossturm (#104) and Thüringer Hof (#43), ca. 1900. Credit: Sammlung Mittag, Themar.

Wieder ein Foto von einer alten Ansichtskarte. Es scheint von den Kleidern der Leute, die an der Mauer sind, ein sehr altes Bild zu sein, sicher vor dem Ersten Weltkrieg. Ich erinnere mich nicht an den Zaun. Und auch nicht an den oberen Teil des Turmes. Diese Straßen wurden im 2. Weltkrieg sehr zerstört, vor allem der Thüringer Hof.

An diesem Ort verbrachte ich ziemlich viel Zeit. Wir wohnten in einem Haus nur zwei Häuser weiter östlich [#2]. Es gab einen Biergarten und einen Garten und ein Haus zwischen den beiden. Die zweite Etage des „Thüringer Hofes“ hatte einen großen Saal und eine Bühne. Hier war das erste Kino in Themar, ca.1923. Auf der linken Seite des Gebäudes war eine Aussparung, wo eine Holztreppe mit einer Holzhütte auf der Spitze errichtet wurde.  Ein Loch wurde in die Wand gestoßen und ein Projektor mit der Hand bedient, um Stummfilme zu zeigen. Mein Vater hat das getan und auch den Film repariert wenn der riss. Als zweijähriges Kind bin ich am Samstag- oder Sonntagnachmittag die Strasse entlang gewackelt, um ins Kino zu gehen, natürlich kostenlos. Später wurde ein neues Kino gebaut, nicht weit entfernt [#101].In diesem Ort war der Sitz der Sozialdemokratischen Partei und des Sozialistischen Sport Clubs  „Freie Turner.“ Ich war für einige Zeit Mitglied. Sonntag morgens ging ich öfters mit meinem Vater in die Bierstube, wo er Skat spielte und Bier trank. Ich habe etwas von seinem Bier geklaut aber wurde nie betrunken. Er fragte sich immer, warum sein Bier so schnell weg war. Er hat mich nie erwischt.

Der Schwiegersohn des Besitzers war unser Turnlehrer und für viele Jahre war er ein guter Freund meines Vaters. Während der Nazi-Zeit aber veränderte er sich völligEinmal, während eines Fahnenappells auf dem Schulhof, gab er den Befehl: „Volk Israel geht hinter die Schule.“ Mein Bruder und ich schauten einander an und marschierten quer über den Appellplatz. Das war mutig. Und vielleicht war es auch gut, dass unsere Ferien gleich danach anfingen, sonst – wer weiß. Sie hatten ein KZ für Kinder.

63. Schlossturm, 1983. (#104) Photo: Arnhold.
64. Schlossturm & Schlossgasse., 1983. (#104) Photo: Arnhold.

 

In dem Haus hinter dem Zaun lebte ein anderer Lehrer [#45]. Er hieß Ziegert und er war ein echter Nazi-Bastard. Seine Tochter war unsere Klassenschönheit. Er war unser Musiklehrer und spielte Geige. Wenn jemand vor Langweile in seiner Klasse döste, schlug er mit seinem Geigenbogen hart auf seinen Kopf.  Mit mir hat er das nie getan. Für mich hatte er sich etwas anderes ausgedacht, zum Beispiel fragte er mich: „Warum haben die Juden Jesus ermodert?“ Ich war der einzige Jude in der Klasse.

65. Hirtengrund mit Hexenturm, c. 1899. (#92 on map) Credit: Sammlung Mittag. [Anmerkung: Früher hat man die Mangergasse “Hirtengrund” genannt. Sie führte vom Rathaus zum Hexenturm.

Das kleine Gebäude an der Mauer war die Folterkammer [#67]. Einmal sah ich die Folterwerkzeuge  in einem Museum in Meiningen.

Hier ist die Mauergasse und am Ende war das „Mauerloch.” Im Haus rechts[#68] lebte Fredy Fischer, ein Schulfreund. Er schielte und wurde deshalb als kleiner Junge operiert. Sein Vater war Möbeltischler und gehörte zur gleichen Kavallerie-Einheit im Ersten Weltkrieg wie mein Vater. Herr Fischer war aber im Regiment Nr. 2 und mein Vater war im Regiment Nr. 3.
Als Junge habe ich Ziegen, Gänse, und ab und zu mal eine Kuh gehütet und durch das Mauerloch (Foto 67 unten] zu den Wiesen hinter der Mauer gebracht. Ich habe für unsere Nachbarn auf die Tiere aufgepasst.

66. Hexenturm u. Fischer Fabrik, 1983. (#92 u. #94). Photo: Arnhold.

Bitte beachten Sie, dass das schiefe Dach des Hauses im Jahr 1983 immer noch aussieht wie früher. Die Folterkammer  ist weg. Das Gebäude hinter der Mauer ist Fishers neue Werkstatt. Ich war in Themar als sie gebaut wurde. Fredy starb im Zweiten Weltkrieg.

[Anmerkungen: Der Hexenturm war eines der ersten Gebäude, das zu seiner vollen Schönheit nach der Wiedervereinigung wiederhergestellt wurde. Die Folterkammer wurde neu erstellt und heute sehen der Turm und die Folterkammer, und selbst die Gasse, fast genauso aus wie am Anfang des letzten Jahrhunderts.]

Mauerloch (#93), 1983. Photo: Arnhold.

Hier bin ich immer entlang gegangen und hier haben wir gespielt. Da gab es ein Spiel mit schweren Holzstöcken. Ein Ende war spitz, das andere Ende war so , dass man es in die Hand nehmen konnte. Sie waren 18  bis 24 Zoll lang und 2 ½ bis 3 ½  Zoll dick (45 – 60 cm lang und 6 – 9 cm dick). Das Ziel war es,  den eigenen Stock mit aller Kraft zuerst in die weiche Wiese zu werfen, so dass er stecken bleibt und der Gegner musste mit seinem Stock ihn heraus schießen und umgekehrt. Das Spiel hieß „Kamerun“, vielleicht nach der   deutschen Kolonie Kamerun in Westafrika. Wo wir das gespielt haben wuchs anschließend lange kein Gras mehr. Wir spielten auch Murmeln. Einmal habe ich alle Murmeln auf der Straße gewonnen. Das war als ich noch alle von ihnen hatte. Ein anderes Mal bauten wir ein Boot aus alten Holzresten.Wir schleppten es durch das Mauerloch und ließen es zu Wasser. Aber nachdem es zweimal sank, haben wir den Spaß aufgegeben.

68. Hexenturm from outside the wall, 1983. Photo: Arnold.Rechts

Hier  sind wir außerhalb der Mauer. Der Fluss ist nur ein paar Schritte rechts davon. Die Mauer geht in einer Rechtsbiegung entlang der Flussböschung. Die kleinen Gärten hatten früher einen Streifen Wiese. Das Gras wurde kurz gehalten, damit die Leute ihre Wäsche trocknen und durch die Sonne bleichen konnten. Dabei musste man die Wäsche ein paar mal wässern. Das tat ich ziemlich oft. Auch musste ich die Gänse und Hunde fern halten. Wir haben das Wasser aus dem Fluss geholt.

Es gab Bäume und Weidengebüsch den Fluss entlang, und wir spielten dort. Einmal hat Erich Ehrenberger meinen Bruder in den Fluss hineingestoßen. Die Hände meines Bruders verfingen sich in den Wurzeln und er konnte sich nicht befreien und ist fast ertrunken. Als Emil, ein andrer Junge. die Füße meines Bruders sah, zog er ihn heraus. Erich [Rosengarten] konnte schwimmen aber er konnte sich nicht befreien. Als ich ihn total nass und weinend  nach Hause brachte, hat meine Mutter mich verprügelt. Ich frage mich immer noch, warum?

#69. Mangergasse Richtung Rathaus, 1983. Photo: Arnhold.

Im Haus links, wo das zweite Auto steht, lebte ein alter sehr abergläubischer Mensch, der einen Fetisch über seinem Abwasserrohr hatte. Alles, was man tun musste, um ihn zu ärgern, war an das Rohr zu stoßen — der Mann kam schreiend aus dem Haus. Die kleine Tür unten am Haus war eine Rampe zum Kartoffelkeller. Einmal habe ich sie geöffnet und er hat mich geschlagen – mein Vater hat ihn fast getötet. Ein anderes Mal haben die älteren Jungen ein altes Stofftier mit Stricken auf das Rohr  gebunden. Er zog es mit einer Mistgabel ab und begrub es in seinem Misthaufen.

Einmal hat er seinen Arm gebrochen. Eine sehr fromme alte Nachbarin, die eine „Sieben-Tags-Adventistin“ war — sie lebte im Haus, vor dem das dritte Auto steht — hat versucht ihn mit einem Bibelwort  zu trösten. Er nannte sie ein altes Kalb und warf sie hinaus.  Gestorben ist er vor Schreck. Er wurde nach einem Gewitter unter einem Tisch tot gefunden. Er war Analphabet, aber seine Frau war ziemlich gebildet und  Lehrerin in einem  Nachbardorf. Emil lebte in dem Haus mit der abgerundeten Tür.

70. Mauergasse Richtung Hexenturm, 1983. Photo: Arnhold.

Wieder ein Bild von demselben Haus von Seiler Papst. Wir lebten im Giebel. Für uns gab es den großen Dachboden,  wo wir bei schlechtem Wetter spielen konnten. Die großen Türen waren für die Wagen, um Heu hereinzubringen und die Gülle für die Felder heraus zu fahren. Zu meiner Zeit gab es keine Autos, es waren aber die Ackerwagen, die in den Strassen Parkplatz brauchten.

Im Haus links von Pabst lebte eine Familie namens Möller. Sie hatten viele Kinder. Von den Häusern in der Nähe kamen die Kinder am Heiligen Abend, wir auch. Meistens schliefen wir auf dem mit Decken ausgelegten Fußboden um den Baum herum ein. Am Baum waren echte Kerzen und ein Erwachsener passte immer mit einem Eimer Wasser auf. Diese Familie hatte Verwandte in Sonneberg, wo Spielzeuge in den Handwerksbetrieben hergestellt wurden. Man konnte kleine Spielzeuge ziemlich billig kaufen und jeder tat etwas für uns Kinder.

Im Haus mit der weiß geschieferten Wand lebte ein Mann, der einer von den sieben Männern war, die bei einer Explosion in einem der Möbelfabriken schlimm verbrannt wurde. Ein Staubbrenner war explodiert. Jeden Tag ging mein Vater als Freiwilliger von einem Mann zum anderen, um ihre Verbände zu erneuern. Mein Bruder und ich gingen mit, um zu helfen oder mehr im Weg zu sein. Wenn ein Kind krank wurde, wie Keuchhusten oder Masern, war jeder ungeschützt, und die ganze Straße war öfters zusammen sehr krank.

Das Haus auf der rechten Seite gehörte der Tochter und dem Schwiegersohn der Familie Papst. Nach dem Krieg schrieben uns ihre Töchter nach Shanghai. Irgendwie fanden sie heraus, dass wir dort waren, und wir haben ihnen ein Paket mit US Army Rationen geschickt. In ihrem Hof beobachtete ich einmal ein Entenpaar. Der Enterich stieg auf eine Henne und noch acht weitere, die rund um ihn auf dem Platz waren, immer zu zweit im Kreis, sich verneigend und einstimmig quakend. Das war das verrückteste Ding, das ich je gesehen habe.

Kapitel 8: In und um Themar


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