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„Digitales Denkmal für deportierte Thüringer,“ von S. Haak

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Sebastian Haak, PhD, „Digitales Gedenken an deportierte Thüringer Juden“, Thüringische Landeszeitung, 05. Mai 2022

Themar/Weimar. Die letzten Zeilen, die Max und Clara Müller aus ihrem Heimatort Themar an ihren Sohn Meinhold schrieben, endeten wie so viele andere Briefe auch – „Liebe“. Voller Sehnsucht: „Alles Liebe, dein Papa“, schreibt Max Müller am 8. Mai 1942 auf ein inzwischen vergilbtes Stück Papier. Direkt unter seiner Unterschrift schreibt Clara Müller „Alles Liebe, Mama“, in einer aufrechteren und kantigeren Handschrift als ihr Mann, der einen flüssigeren Stil verwendet, der schnell über die Seite geht. Das ist an diesem Tag wichtig: „Da es sehr dringend ist, schreibe ich kurz“. Es ist der letzte Satz ihres Grußes an Meinhold.

Einen Tag später – am 9. Mai 1942, vor 80 Jahren – waren die Müllers wie Hunderte andere Männer, Frauen und Kinder auf Befehl des NS-Regimes und seiner Schergen auf dem Weg zur Viehversteigerungshalle in Weimar (die es heute nicht mehr gibt, sie ist 2015 abgebrannt).

Aus 43 Dörfern und Städten führte die Eisenbahn nach Weimar
Die Menschen kamen aus 43 Dörfern und Städten Thüringens, insgesamt 513 Seelen. Nicht nur aus Themar, das tief im Süden der Provinz liegt, sondern zum Beispiel auch aus Bleicherode im Norden, Gehaus im Westen und Altenburg im Osten.

Einen Tag später – am 10. Mai 1942 – wurden sie in das Ghetto Belzyce bei Lublin im besetzten Polen deportiert. Es ist die erste, aber nicht die letzte große Deportation von Thüringer Juden in den „Osten“. Weg von den Gemeinden, in denen sie lebten. Weg von Orten, an denen sie – zumindest bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten – über Generationen hinweg gut integriert in der Gemeinschaft gelebt hatten. Manchmal beäugt von ihren Nachbarn. Immer wieder vertrieben von staatlichen Verwaltern, die sie nicht schützten, sondern verfolgten.

Während es noch einige Zeitzeugen gibt, die von der Angst, die in der Viehauktionshalle herrschte, berichten können, bleibt für viele der Deportierten nur ein Name. Wer diese Menschen tatsächlich waren, wo sie aufgewachsen sind, welche Träume und Hoffnungen sie für ihre Kinder hatten, wie ihr Alltag aussah und wie sie aussahen, ist den meisten unbekannt. Und wenn über einige Personen mehr bekannt ist, sind die meisten Informationen nicht öffentlich zugänglich. Bis jetzt. Dass das Leben der Müllers gut erforscht und im Internet verfügbar ist, bleibt die Ausnahme, nicht die Regel.

Das könnte sich in absehbarer Zeit ändern. Wenn das aktuelle Forschungsprojekt von Sharon Meen, dessen erste Ergebnisse im Netz zu finden sind, erfolgreich ist. Sie versucht, möglichst viele Lebenswege derjenigen zu rekonstruieren, die nach Weimar transportiert und von dort ins Ghetto Belzyce deportiert wurden.

„Diese Website“, sagt Meen, „ist eine Art Gedenkstätte für die 513 Männer, Frauen und Kinder, die am 10. Mai 1942 ins Ghetto Belzyce deportiert wurden.“ Seit Ende der 2000er Jahre erforscht sie die jüdischen Familien Thüringens, wobei sie sich besonders auf die Stadt Themar und die umliegenden Dörfer konzentriert. Sie betont, dass sie keine „Holocaust-Historikerin“ ist, sondern sich vielmehr für die Geschichte deutsch-jüdischer Familien interessiert, die so weit wie möglich in die Vergangenheit zurückreicht, oft über Jahrhunderte. „Jude in Deutschland zu sein, ist viel mehr, als ein Opfer der Shoah zu sein.“

Auf der Projekt-Website gibt es eine Karte mit allen Orten, von denen aus Juden mit dem Zug zur Viehauktionshalle in Weimar fahren mussten. Für jeden Ort ist angegeben, wie viele Personen – und ihre Namen – dort waren. Zu vielen dieser Personen sind bereits umfangreiche Informationen erarbeitet und veröffentlicht worden.

Ein Beispiel: Ilse Rosenthal, die zum Zeitpunkt der Deportation in Apolda lebte. Sie wurde 1913 in Uelzen geboren, heiratete ihren Mann Max 1941 in Pössneck. Ihr Vater, der im Ersten Weltkrieg in der deutschen Armee gekämpft hatte, wurde 1938 nach Buchenwald verschleppt. Für die Familie Rosenthal wurden 2018 Stolpersteine verlegt, damit sich Passanten an das Schicksal dieser früheren Bewohner erinnern können.

Zu vielen anderen gibt es noch keine Biografien; Meen hofft, dass andere helfen. „Vielleicht gibt es Menschen“, fragt sie, „die über diese Familien Bescheid wissen, aber nie darüber gesprochen haben und nun ihr Wissen beisteuern könnten? Vielleicht gibt es Briefe auf Dachböden, die uns von den vier Personen erzählen, die Eisenberg verlassen mussten? Oder über die 58, die aus Eisenach abtransportiert wurden? Vielleicht gibt es auch Fotos?“ „Acht Jahrzehnte nach dieser ersten großen Deportation von Thüringer Juden hat sich einiges getan“, sagt sie, „aber es gibt noch viel zu tun.“

Die Erinnerung an gelebtes Leben sollte die Zeit überdauern
Auf einer eher geschichtsphilosophischen Ebene ist dieses Projekt auch ein Versuch, einen Plan der Nazis zu vereiteln. Wo die Nazis das „jüdische Element“ aus der deutschen Geschichte „auslöschen“ wollten, also die Ermordung der Juden ein entscheidender Teil ihres Plans war, sorgen Meen und andere dafür, dass zumindest die Erinnerung an diese Menschen überdauert.

Im Bundesland Thüringen gibt es viele Initiativen und Pläne, um die Erinnerung zu bewahren. Ein Gedenkbuch der 2500 Thüringer Juden wird von der Gedenkstätte Topf & Söhne in Zusammenarbeit mit den Universitäts- und Landesbibliotheken vorbereitet. Max und Clara Müller sind zwei von ihnen. Wann und wo sie gestorben sind, wird unbekannt bleiben.

Die Website lautet: www.insghettobelzyce.org 

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