von: Sabine Schwab
Selma und Lonni Thekla Gassenheimer
Auch die Töchter von Emanuel Schwab, dem älteren Bruder von Max und Hermann Schwab, fanden in Auschwitz den Tod. Selma und Lonni Thekla Schwab, die Cousinen von Fritz, Kurt, Ilse Bella, Selma (Jenny) und Julius, waren in Berkach geboren: Selma am 24. Juni 1880 und Thekla am 3. Mai 1884. Die Schwestern heirateten die Brüder Georg und Rudolph (Rudolf) Gassenheimer aus Themar bei Hildburghausen / Thüringen (siehe Kapitel 2.2.1.). Vermutlich kannten sich die Geschwister Gassenheimer und Schwab bereits aus Themar, wo alle in den 1890er Jahren ihre Kindheit und Jugend verbrachten. Zudem verband dieselbe Kundschaft (Bauern) die beiden Familien, die im Viehhandel (Schwab) und im Handel mit landwirtschftlichen Maschinen (Gassenheimer) tätig waren.
Georg, geb. am 18. August 1874, war das siebte und Rudolf, geb. am 27. Juli 1880, das zehnte Kind aus der Kaufmannsfamilie Samuel Gassenheimer (1837 bis 1892) und Charlotte „Lotte“ Stein (1840 bis 1889) aus Marisfeld bei Themar. Die Familie lebte bis ca. 1865 in Bibra (ein Nachbarort von Berkach, siehe Kapitel 1.) und danach in Themar (siehe Kapitel 2.2.1.) und hatte insgesamt acht Söhne und drei Töchter, die zwischen 1863 und 1882 geboren wurden. Etwa zeitgleich mit dem Umzug nach Themar wanderte ein 12 Jahre jüngerer Bruder von Samuel, Selig Gassenheimer (1849 bis 1926), im Alter von 15 Jahren nach Montgomery / Alabama USA aus. Dort gründete er eine Familie und wurde Vater von neun Kindern. Er führte mit drei seiner Söhne (darunter Leo, siehe unten) eine Firma für Bürobedarf und Papier, Mercantile Paper Co., 1918 hatte die Firma ihren Sitz 108 Commerce Street. Offenbar pflegte Selig seine familiären Kontakte nach Deutschland, die über seinen Tod hinaus hielten.
Als die Brüder Georg und Rudolf 15 und 9 Jahre alt waren, starb ihre Mutter. Sie wurde 49 Jahre alt. Der Vater heiratete erneut die 20 Jahre jüngere Betty Frankson (1857 bis 1935). Drei Jahre nach der Mutter starb auch der Vater im Alter von 55 Jahren und so waren Georg und Rudolf im Alter von 18 und 12 Jahren Vollwaisen. Die gemeinsame Erfahrung des frühen Todes der Mutter verband vermutlich die Brüder Gassenheimer mit den Schwestern Selma und Thekla Schwab, die beim Tod ihrer Mutter 21 und 17 Jahre alt waren.
Georg und Rudolf setzten den väterlichen Handel mit landwirtschaftlichen Maschinen fort und zogen wie drei weitere Brüder von Themar in andere Städte. Nur ein Bruder (Ernst, geb. 1870) blieb in Themar. Der Bernhardt Gassenheimer, geb. 865, war bereits als junger Mann in die USA ausgewandert. Die Brüder in Deutschland entwickelten eine Art Filialstruktur: Ernst in Themar, Julius in Nürnberg, Georg in Halle/Saale, Josef in Plauen, Rudolf in Görlitz und Siegmund in Dresden. Die Geschwister handelten vermutlich auch untereinander mit den Maschinen.
Zwei der drei Schwestern lebten nach ihrer Heirat zunächst in Dessau, Halberstadt (siehe Kapitel 2.1.). und zogen während des Ersten Weltkrieges nach Halle/Saale: Emma Marcus (ehemals Dessau) und Elise Ney (ehemals Halberstadt), wo bereits die dritte Schwester Minna Frankenberg lebte. Und auch die Ehemänner Simon Marcus und Nathan Frankenberg handelten in Halle/Saale mit landwirtschaftlichen Maschinen.
Das ältere Ehepaar Georg und Selma Gassenheimer heiratete am 19. April 1901 in Themar. An ihrem Hochzeitstag feierte Selmas Onkel Hermann Schwab auch seinen 38. Geburtstag. Ein halbes Jahr nach der Hochzeit starb in Themar die Mutter von Selma, Babette Schwab (geb. Strauß), im Alter von 43 Jahren am 31. Oktober 1901 (siehe Kapitel 2.2.1.). Kurz nach der Eheschließung lebte das Ehepaar in Halle/Saale: ab 1903 Königstraße 28 und ab 1904 Landwehrstraße 19. Georg war Kaufmann und gründete 1904 die Firma Georg Gassenheimer. Seine Ehefrau wurde Prokuristin. Im Adressbuch 1909 warb Georg mit der „Spezialität: Welt-Seperatoren, Nachtigall-Milch-Zentrifugen, Fabrikation von Hand-Hackmaschinen“.
Am 4. November 1904 kam Tochter Ruth Gassenheimer auf die Welt. Selmas gleichnamige Cousine, Selma (Jenny) Schwab, fühlte sich Ruth eng verbunden. Vor ihrer Hochzeit 1910 wohnte Jenny in derselben Straße wie die junge Familie Gassenheimer. Mittlerweile lebte auch der Vater von Selma, der Witwer Emanuel Schwab, als Reisender und Kaufmann in Halle/Saale, ab 1907 Thomasiusstraße 7, ab 1908 Prinzenstraße 6, und ab 1918 Germarstraße 5 (siehe Kapitel 2.2. und 2.2.3.). Emanuel war 1910 Trauzeuge bei der Hochzeit seiner Nichte Jenny. 20 Jahre später bedachte Jenny, mittlerweile geschieden und kinderlos geblieben, Ruth in ihrem Testament mit ihrer Perlenkette (siehe Kapitel 4.2.).
1910 gab Georg die erste Firma auf und gründete mit zwei weiteren Geschäftsleuten die zweite Firma „Terno-Maschinen-GmbH“, deren Zweck der Handel mit und die Reparatur von landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten war. Er übernahm als größter Gesellschafter die Geschäftsführung und nannte sich Direktor.
Vor dem Ersten Weltkrieg galt die zweite Firma als Spezialhaus für moderne Separatoren (Geräte zur Trennung von Gülle) und Butterfässer sowie für Motoren in der Landwirtschaft und Industrie und unterhielt eine Filiale in Wien (siehe Kapitel 2.1.3.). Dennoch kam es bereits 1912 zu einem Konkursverfahren. In dieser Zeit trug Selma mit einem Kleingewerbe zum Familieneinkommen bei. Im Mai 1914 gründete Georg dann eine dritte Firma „Maschinenindustrie für Landwirtschaft“, wobei diesmal Gesellschafter nur er und seine Ehefrau Selma waren. Als Gesellschafterin brachte Selma Maschinen im Wert von 13.500 Mark ein: 94 Milchschleudern für Hand- und Kraftbetrieb und dazugehörig 49 Untergestelle und Drehvorrichtungen sowie 19 Molkereimaschinen (Buttermaschinen). Das Amtsgericht verweigerte aber die Eintragung dieser Firma in das Handelsregister, da der Firmennamen eine tatsächlich nicht stattfindende Fabrikation nur vortäuschen würde. Im August 1914 (Beginn des Ersten Weltkrieges) hob das Landgericht den Beschluss des Amtsgerichtes wieder auf.
Während des Ersten Weltkrieges wirkte sich der kriegsbedingte Arbeitskräftemangel nachteilig auf die Geschäfte der zweiten und dritten Firma aus. 1917 erlitt die zweite Firma erneut Konkurs. Konkurrenz und Gläubiger zeigten sich irritiert über das Bestehen von zwei Firmen mit gleichem Handelszweck und dass nur eine Firma als zahlungsunfähig galt. Zudem löste auch die Namensgebung erneut einen Rechtsstreit aus, bei dem sich Georg durch den Rechtsanwalt und Notar Dr. Julius Fackenheim, Große Steinstraße 12 in Halle/Saale, vertreten ließ, dessen Kanzlei auch für die Gebrüder Schwab Viehhandlung tätig war (siehe Kapitel 2.2.3. und 4.4.).
1916 zog die Familie der ältesten Gassenheimer-Schwester Emma von Dessau nach Halle/Saale in die Kirchnerstaße 21. In Dessau hatte die Familie Marcus ein Tuch und Bucksein Lager (en gros und en detail) betrieben. Bucksin ist ein „geköpertes Wollengewebe“. Es ist elastischer und wegen der starken Drehung des Garns minder glänzend als Tuch und wurde als Kleidungsstücke für Männer, insbesondere zu sehr haltbaren Beinkleidern verarbeitet und auch in der Automobilindustrie verwendet. Emma und Simon Marcus hatten drei Söhne, Paul, Siegfried und Erich.
1917 zog die Gassenheimer-Schwester Elise Ney mit ihrem vierjährigen Sohn Hans von Halberstadt nach Halle/Saale, wo sie zunächst in der Reilstraße 16 und ab dem Jahr darauf in der Maybachstraße 2 wohnte. Die Familie Ney betrieb in Halberstadt (siehe Kapitel 2.1.) seit 1876 ein Handelsgeschäft (ab 1895 als „Fell- und Talghandlung“ bezeichnet) in der Bakenstraße 22. Der Kaufmann Max Ney wohnte 1909 in der Plantagenstrße.4. Der einzige Sohn aus der Ehe von Max und Elise Ney Hans wurde 1913 in Halberstadt geboren. Bei seiner Geburt war Elise 37 Jahre alt. Hans war später als Kraftfahrer und Schweißer tätig.
Nach dem Ersten Weltkrieg bezeichnete sich Georg Gassenheimer im Adressbuch als Fabrikbesitzer mit Wohnsitz in der Halberstädter Straße 1. 1922 benannte er die dritte Firma um in „Torpedo Maschinenfabrik GmbH“, die auf Stein-, Schrotmühlen und Kreissägen, Kartoffel- und Haferquetschen spezialisiert war und ihren Sitz 1924 in der Barbarastraße 2 hatte. Die Firma geriet „infolge der aus dem Kriege erwachsenen wirtschaftlichen Verhältnisse“ (Inflation und Mangel an Bargeld bei den Abnehmern, siehe Kapitel 3.2.) in Zahlungsschwierigkeiten.
Im Vergleichsverfahren 1925 wurden durch das Amtsgericht 142 Gläubiger festgestellt (größter Gläubiger war ein Bankhaus), von denen etwa die Hälfte anerkannt wurden. Die Firma wurde zeitweise unter Geschäftsaufsicht gestellt und der Konkurs konnte abgewendet werden. Das Amtsgericht strengte im Rahmen des Verfahrens Erkundigungen an und stellte fest, dass Georg als „fleissiger Kaufmann galt, dem kein unredliches Verhalten nachgewiesen werden konnte“. Die befragten Unternehmer gaben dabei an, dass es sich um ein „kleines unbedeutendes“ Unternehmen mit guten Waren, Zahlungsschwierigkeiten und „jüdischen Geschäftsgebaren“ handelte.
1925 gründete Georg schließlich seine vierte Firma „Georg Gassenheimer“, die mit Kraftfahrzeugbedarf, Werkzeugen und Maschinen für Landwirtschaft und Industrie handelte. Die zweite Firma wurde 1926 und die dritte Firma 1927 im Handelsregister gelöscht. 1926 starb der Onkel von Georg, Selig Gassenheimer (siehe oben), in den USA im Alter von 77 Jahren.
Im November 1925 kam es anlässlich der Beerdigung von Simon Marcus (1861 bis 1925 und Ehemann der ältesten Gassenheimer-Schwester Emma) zu einem Treffen der Gassenheimer-Geschwister in Halle/Saale. Alle neun in Deutschland lebenden Geschwister kamen zusammen und sie hielten dies auf einem gemeinsamen Foto fest. Sieben Jahre später, im November 1932, starb Emma Marcus im Alter von 69 Jahren.
Im April 1933 richtete sich der Boykottaufruf „Deutsche kauft nicht beim Juden!“ auch gegen die Firma von Georg Gassenheimer. Der Firmensitz war mittlerweile die Wettiner Straße 37 (heute Karl-Liebknecht-Straße). Bereits seit März 1933 lebte die Familie Gassenheimer in Berlin-Charlottenburg, Sybelstraße 68. Georg meldete seine vierte Firma im Juni 1933 nach Berlin-Charlottenburg, mit Sitz Giesebrechtstraße 18 und später Waitzstraße 7, um. In Berlin war er als Werksvertreter für Landmaschinen, landwirtschaftliche Geräte, Handwagen, Dezimalbrücken und Laufgewichtswagen tätig. Vermutlich handelte er auch mit Fahrrädern und Nähmaschinen und diesbezüglichen Ersatzteilen. Im Mai 1937 wurde Georg auf einer Karteikarte der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Osnabrück zur „Sicherheitsdienst-Fahnung“ erfasst und als Wohnort Berlin-Adlershof angegeben. In den Jahren 1936 bis 1938 befasste sich der Sicherheitsdienst der Gestapo häufig mit der Überwachung der jüdischen Auswanderer.
Ende April 1938 wurde Hans Ney (siehe oben), der Neffe von Georg und Selma Gassenheimer, im Alter von 24 Jahren als „Aso“-Häftling mit der Nummer 89 in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt (siehe „Aso“ Kapitel 4.2.). Einen Monat später wurde er nach Halberstadt entlassen. Bei der Volkszählung im Mai 1939 wurde er in Berlin-Prenzlauer Berg erfasst und zog nur einen Monat später nach München, wo er bei jüdischen Einrichtungen (Lehrlingsheim und Krankenhaus) arbeiten konnte. Im April 1942 wurde er von München aus mit der Transportnummer 50 in das Ghetto Piaski bei Lublin deportiert. [Siehe https://www.geni.com/people/Anneliese-Treumann/5569913661360137721?through=6000000028279518119 und https://stadt.muenchen.de/dam/jcr:08059801-ce06-45eb-adbf-2ddbaebe363c/TreumannAnneliese_Erinnerungszeichen_it.pdf]
Vermutlich erfuhr Georg noch von der Verschleppung von Hans Ney in das Konzentrationslager Buchenwald. Im Mai 1938 flüchtete er im Alter von 64 Jahren allein aus Deutschland zu Rudolf und Thekla nach Reichenberg / Sudetendeutschland (heute Liberec in Nordböhmen / Tschechien) und wohnte Schillerstraße 22. Er erteilte von dort aus im September 1938 seiner Ehefrau Selma eine „Generalvollmacht“ für sich und seine vierte Firma. Selma war mit ihrer Tochter in Berlin geblieben und wohnte im Mai 1939 (Volkszählung, siehe Kapitel 3.4.) in Berlin-Charlottenburg, Waitzstraße 2. Ende Mai 1939 wurde die vierte Firma im Handelsregister gelöscht. Sieben Monate später, Ende November 1939, flüchtete Selma im Alter von 59 Jahren zu ihrem Ehemann.
Vermutlich wartete Selma in Berlin auch ab, bis ihre noch unverheiratete 34-jährige Tochter Ruth im April 1939 allein mit dem Schiff von Hamburg nach New York flüchtete. Vier Jahre zuvor, im Februar 1935, hatte sie für zwei Monate in Prag gelebt. Ruth war damals 30 Jahre alt und in Prag-Bubenec als Krankenpflegerin bei Walter Petschek beschäftigt.
In New York angekommen, war das Ziel von Ruth der Wohnsitz ihres in den USA geborenen Bürgen Leo Gassenheimer (1885 bis 1956) in Montgomery / Alabama. Leo war ein Sohn von Selig Gassenheimer und damit ein Cousin von Ruths Vater Georg Gassenheimer. Sie wohnte 6W Cloverdale Ridge Avenue bei Leos Schwestern Florence (1880 bis 1953) und Alma (1882 bis 1963), die damals beide knapp 60 Jahre alt waren. Florence war bereits seit 1911 verwitwet und Alma hatte den frühen Tod einer Tochter zu verkraften. Nur fünf Monate nach ihrer Ankunft im Oktober 1939 beantragte Ruth die Staatsbürgerschaft der USA. 1940 wurde Ruth im Adressbuch von Montgomery als Verkäuferin (Saleswomen) des Jeweliergeschäftes Klein & Sohn Inc. aufgeführt. Dort wurden Schmuck, Edelsteine, Silber-und Glaswaren sowie Fotokameras und Fotozubehör angeboten.
1940 beantragte Ruth in New Orleans / Louisiana die Einreise nach Brasilien und gab dabei an, dass sie ledig sei. Vermutlich in Rio de Janeiro lernte sie ihren Ehemann Herbert Friedmann kennen, der österreicherischer Herkunft und vermutlich in Brasilien geboren war. [Ruth blieb über ein Jahr in Montgomery und lebte bei Leos Schwestern, Florence Moog und Selma Gassenheimer, aber ihr endgültiges Ziel war Rio de Janeiro, wo sie Herbert Josef Friedmann heiraten wollte, einen Mann, den sie kennen gelernt hatte, als beide an der Universität Wien studierten. Im Juli 1940 verließ Ruth die Vereinigten Staaten und segelte von New Orleans nach Rio de Jainero. Am 19. September heirateten sie und Herbert. https://judeninthemar.org/de/die-familie-von-samuel-gassenheimer-1802-1854/] Er war Bankangestellter und spielte Cello. Das Ehepaar lebte nach der Pensionierung von Herbert in Teresopolis, eine Stadt rund 90 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt in der Serra dos Órgãos (Orgelpfeifengebirge, ein Nationalpark) auf einer Höhe von 870 Metern gelegen. Die Eheleute liebten vermutlich die Berge und verbrachten gerne ihre Ferien in der Schweiz. Ruth (die sich in Brasilien Lotte nannte) interessierte sich fürs Theater und beschäftigte sich in ihrer Freizeit intensiv mit Jiu- Jitsu. Sie kehrte nie wieder nach Deutschland zurück, hielt aber Kontakt zu den Familien ihrer Hallenser Cousins, den Söhnen von Emma Gassenheimer, die in den USA und in Uruguay lebten. Heute können sich die Kinder der Gassenheimer-Cousins nicht daran erinnern, dass bei diesen Kontakten jemals über Deutschland oder die Verfolgung gesprochen wurde.
Nur fünf Monate vor ihrem 90. Geburtstag starb Ruth am 17. Juni 1994. Ihr Ehemann starb einige Jahre nach der Jahrtausendwende.
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Das jüngere Ehepaar Rudolf und Thekla (Tekla) Gassenheimer heiratete am 12. November 1908 in Halle/Saale. Die Verlobung gaben beide im August 1908 im Berliner Tageblatt bekannt. Vor der Ehe lebte Thekla bei ihrer verheirateten Schwester Selma in Halle/Saale, Landwehrstraße 19, während Rudolf seinen Wohnsitz schon in Görlitz / Niederschlesien (Oberlausitz) hatte. Nach der Heirat wohnte das Ehepaar in Görlitz zunächst am Sechsstädteplatz 1 und zwischen 1911 und 1932 am Wilhelmplatz 9a. Rudolf war Kaufmann und Inhaber der Firma Separatoren-Industrie (Landmaschinen). Ein Verkaufsbüro für land- und milchwirtschaftliche Maschinen befand sich in der Rochlitzer Straße 12. Die Ehe blieb vermutlich kinderlos. Bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, seit April 1933 bis September 1938, lebten Rudolf und Thekla in Reichenberg / Sudetendeutschland (heute Liberec in Nordböhmen / Tschechien).
Im Mai 1938 war der Bruder und Schwager Georg nach Reichenbach zu Rudolf und Thekla geflüchtet. Anfang September 1938 flüchtete auch Fritz Schwab mit seiner jüngsten Tochter Liliane, damals 9 Jahre alt, aus Leipzig nach Prag (siehe Kapitel 4.1.).
Ende September 1938 wurde im Münchner Abkommen das sudetendeutsche Gebiet der Tschechoslowakei dem Deutschen Reich zugesprochen. Zur selben Zeit trat der Diplomat George F. Kennan (1904 bis 2005) seinen Dienst in der architektonisch schönen Residenz des US-Botschafters auf der Prager Kleinseite, dem Palais Schönborn, an und berichtete:
„Prag war verdunkelt, der Ausnahmezustand erklärt. … Ich war mit auf dem … Wenzelsplatz, als (die Bestimmungen des Münchner Abkommens) über Lautsprecher bekanntgegeben wurden, und einer meiner ersten Eindrücke von Prag war der Anblick Hunderter von Menschen, die hemmungslos weinten, als die Unabhängigkeit, deren sich ihr Land erst zwanzig Jahre lang hatte erfreuen dürfen, dergestalt zu Grabe geläutet wurde.“
Kurz darauf besetzte die deutsche Wehrmacht Anfang Oktober 1938 die an Deutschland und das frühere Österreich angrenzenden Gebiete der Tschechoslowakei. Bei der Mobilmachung der Tschechoslowakei hatten Rudolf und Thekla Gassenheimer in Reichenberg der Militärverwaltung ihr Auto „freiwillig zur Verfügung“ gestellt. Am Tag, als das Münchner Abkommen öffentlich wurde (30. September 1938), flüchteten sie nach Bad Bielohrad (heute Lázně Bělohrad / Tschechien) am Fuße des Riesengebirges.
Zehn Tage später, im Oktober 1938, trafen Rudolf und Thekla (damals 58 und 54 Jahre alt) in Prag ein. Es ist nicht bekannt, ob sie wussten, dass sich zeitgleich in Prag auch der Cousin von Thekla, Fritz Schwab mit seiner Tochter, aufhielt.
Im November 1938 wurde für Rudolf und Thekla die Wohnbewilligung für die Tschechslowakische Republik ab Ende Juli 1939 entzogen. Sie legten mit Hilfe eines Rechtsanwaltes im Januar 1939 Einspruch beim Innenministerium in Prag ein und verwiesen auf ihre Bemühungen mit Hilfe der Hicem (eine jüdische Hilfsorganisation) die Auswanderung nach Übersee zu erreichen. Zuvor beantragten sie auch ein Einwanderungsvisum beim amerikanischen Generalkonsulat in Prag. Im Weiteren schrieben sie:
„Wir sehen keinen Grund, welcher eine Ausweisung rechtfertigt. Wir leben ruhig und haben keine Konflikte, nehmen niemanden Platz weg und wir leben von unseren eigenen Mitteln, … welche wir angespart haben und sind von niemanden abhängig.“
Während Fritz Schwab nach vier Monaten Aufenthalt Anfang Dezember 1938 seine Flucht mit seiner Tochter Liliane Richtung Schweiz fortsetzte, Anfang Januar in Genf eintraf und dort im März 1939 mit seinem Bruder Kurt zusammentraf, blieben die Ehepaare Gassenheimer in der Tschechoslowakei.
Mitte März 1939 wurde die „restliche“ Tschechslowakische Republik und Prag von der deutschen Wehrmacht besetzt. Zeitgleich wurde die amerikanische Botschaft offiziell aufgegeben. Der Diplomat George F. Kennan blieb auf Anordnung des Außenministeriums allein noch ein halbes Jahr dort und schrieb Bericht für Bericht so auch über den Zustand des „Wartens“:
„Die Industrieunternehmen haben reichlich zu tun, um den unstillbaren Appetit des Reiches auf ihre Produkte zu befriedigen. Aber alle anderen Sphären menschlicher Betätigung scheinen von einer seltsamen Lethargie befallen, die fast einer Lähmung gleicht. Alles hält den Atem an. Kein Mensch zeigt Initiative, keiner plant für die Zukunft. Kulturelles Leben und Vergnügungsindustrie laufen ohne Begeisterung und mechanisch weiter. Die Leute sitzen lieber … in den Biergärten … oder Parks … und warten mit erzwungener Geduld auf das Eintritt eines Ereignisses, daß keiner von ihnen beschreiben könnte, aber von dem sie alle wissen, daß es kommen muss und daß es in ihrer aller Leben eingreifen wird. …“
Sieben Monate nachdem Rudolf und Thekla nach Prag gezogen waren, lebten ab Juni 1939 auch Georg und Selma in Prag. Beide Ehepaare erlebten gemeinsam den Beginn des Zweiten Weltkrieges drei Monate später. Sie wechselten in Prag mehrmals die Wohnungen. Thekla und Rudolf wohnten ab Februar 1940 in Prag 10, Karlova / Nymburska 21, und Selma und Georg ab September 1940 in Prag 1, Hastalska 6, die jeweils ihre letzten Anschriften wurden. Vermutlich waren die Ersparnisse aufgebraucht, da auch ihre Berufsbezeichnungen vermerkt wurden: bei Georg und Selma „Arbeiter“ und bei Rudolf „Installateur“. Georg nannte sich mittlerweile Jiri.
Schließlich nach fast drei Jahren in Prag, am 20. Juni 1942, wurden die Ehepaare gemeinsam in das Sammel- und Durchgangslager Theresienstadt deportiert.
Nur zwei Wochen vor ihrer Deportation nach Theresienstadt erlag Reinhard Heydrich am 4. Juni 1942 in Prag den Folgen eines von tschechischen Widerstandskämpfern verübten Attentats. Der SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich (geb. 1904 in Halle/Saale, siehe Kapitel 4.2. und 4.5.) war mittlerweile zum Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (eine Behörde mit 3.000 Mitarbeitern), zum Beauftragten für die Durchführung der „Endlösung der Juden“ sowie zum stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren aufgestiegen. Heydrich galt als ein außergewöhnlich „begabter Organisator“. Er selbst sah sich als „Tatmensch“, weniger als „Visionär“ wie Adolf Hitler und sein Vorgesetzter Heinrich Himmler.
Drei Monate später, Mitte September 1942, wurden aus Halle/Saale auch die Gassenheimer-Schwestern, die alleinstehende Elise Ney (geb. 1876) sowie Minna Frankenberg (geb. 1872) und deren Ehemann Nathan Frankenberg (geb. 1863 und siehe Kapitel 4.2.) nach Theresienstadt deportiert. Elise Ney wohnte ab 1938 bei ihrer Schwester Minna Frankenberg in der Kurfürstenstraße 74, vermutlich nachdem ihr Sohn Hans nach Berlin gezogen war. Zuletzt wohnten Elise und das Ehepaar Frankenberg zusammen im jüdischen Altersheim auf dem jüdischen Friedhof in der Boelckestraße (heute Dessauer Straße). Es ist nur zu vermuten, daß Elise über die Deportation ihres einzigen Sohnes Hans aus München in das Transit-Ghetto Piaski nahe Lublin im April 1942 informiert war. Zum Zeitpunkt ihrer Deportation waren Elise 66 Jahre, Minna 70 Jahre und Nathan 79 Jahre alt. In Theresienstadt hielten die aus Halle Deportierten Kontakt miteinander. Ob die Gassenheimer-Schwestern ihren Brüdern Georg und Rudolf im Lager begegneten, ist dagegen nicht bekannt.
Anfang Oktober verstarb die Gassenheimer-Schwester Elise Ney im Alter von 66 Jahren an Lungenentzündung und Herzschwäche. Am 26. Oktober 1942, vier Monate nach ihrer Ankunft in Theresienstadt, wurden Selma und Georg (Jiri) weiter nach Auschwitz deportiert. Ihr Transport umfasste 1.834 Menschen. Die 62-jährige Selma und der 68-jährige Georg hatten die Nummern 208 und 209. Nur 33 Menschen ihres Transportes überlebten das Konzentrationslager. Mitte November 1942 traf der von Elise geschiedene Ehemann Max Ney aus Halberstadt / Magdeburg in Theresienstadt ein. Anfang Dezember 1942 verstarben in Theresienstadt Nathan Frankenberg, der Ehemann der Gassenheimer-Schwester Minna, im Alter von 79 Jahren an Rippenfell – und Lungenentzündung und im Oktober 1943 Max Ney, der geschiedene Ehemann der Gassenheimer-Schwester Elise, im Alter von 70 Jahren.
Zwei Jahre nach der Deportation von Selma und Georg, am 23. Oktober 1944, wurden auch die 60-jährige Thekla und der 64-jährige Rudolf gemeinsam mit 1.712 weiteren Menschen nach Auschwitz deportiert. Sie trugen die Nummern 1.496 und 1.497. 210 Menschen dieses Transportes überlebten das Konzentrationslager Auschwitz, das drei Monate später am 27. Januar 1945 durch sowjetische Truppen der Ukrainischen Front befreit wurde.
In Theresienstadt überlebte Minna Frankenberg. Die 73-Jährige kehrte 1945 nach Halle/Saale zurück, wo sie 1961 im Alter von 89 Jahren starb. Ob sie dort mit Margarethe Schwab (siehe Kapitel 4.2.) bekannt war, ist nicht überliefert. Neben ihrem Ehemann (siehe oben) hatte sie ihren Sohn Siegfried (1895 bis 1944) und ihre Schwiegertochter Hertha (1909 bis 1944) verloren. Die jungen Leute waren im Juli 1936 in die Tschechoslowakische Republik ausgewandert und ließen sich in Podiebrad (heute Poděbrady in Mittelböhmen / Tschechien) nieder. Siegfried wurde im Juni 1942 von Kolin (20 Kilometer von Podiebrad entfernt) nach Theresienstadt deportiert. Er traf zeitgleich wie seine Eltern aus Halle/Saale in Theresienstadt ein und es ist unbekannt, ob er sie dort auch traf. Seine Ehefrau Hertha wurde im Dezember 1942 von Prag nach Theresienstadt deportiert. Im September und Oktober 1944 wurden Siegfried und Hertha nach Auschwitz deportiert.