In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten jüdische Synagogen in ganz Deutschland. Angehörige von Sturmabteilung (SA) und Schutzstaffel (SS) zertrümmerten die Schaufenster jüdischer Geschäfte, demolierten die Wohnungen jüdischer Bürger und misshandelten ihre Bewohner. 91 Tote, 267 zerstörte Gottes- und Gemeindehäuser und 7.500 verwüstete Geschäfte — das war die “offizielle” Bilanz des Terrors. Tatsächlich starben während und unmittelbar in Folge der Ausschreitungen weit mehr als 1.300 Menschen, mit mindestens 1.400 wurden über die Hälfte aller Synagogen oder Gebetshäuser in Deutschland und Österreich stark beschädigt oder ganz zerstört. Weisung zu dem Pogrom war von München ausgegangen, wo sich die Führung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) zum Gedenken an den 15. Jahrestag des Hitler-Putsches versammelt hatte. Am 10. November wurden mehr als 30.000 männliche Juden in Konzentrationslager (KZ) verschleppt.
Im November 1938 gab es noch 21 jüdische Männer in Themar (siehe Liste unten). In der Nacht vom 9.-10. November wurden achtzehn von ihnen verhaftet und nach Buchenwald verschleppt. Ernst Gassenheimer (geb.1870) lag im Krankenhaus. Neunzehnjährige Adalbert Stern, der aus einer jüdischen Ausbildungsstätte nach Hause war, entschied sich mit dem Bus zu reisen, anstatt mit dem Zug, und mit der Hilfe von den Eltern seiner Kamaraden versteckt wurde, blieb unverhaftet. „Es war gefährlich, aber sehr mutig, das zu tun, dachte ich,“ erinnert sich sein Freund Willi Guttsmann im Jahr 1992.
Unter den achtzehn Männern befanden sich Max Müller II (geb. 1884) und sein ältester Sohn Herbert, damals 24 Jahre alt. Fünfzig Jahre später, in einer Rede vor seiner Synagoge in Jamaica, New York, erinnerte sich Herbert an die Erfahrungen in jener Nacht.
“Am oder um den 7. November 1938, war ein Mitglied des deutschen Auswärtigen Dienstes, Ernst von Rath, von einem jungen jüdischen Mann erschossen worden. Wir wussten, das würde Folgen haben. Wir wurden gewarnt und aufgefordert, so viel wie möglich zu unternehmen. Gleich haben wir also am 7ten November die Sifre Torahs und Bücher aus der Synagoge entfernt und sie im Garten hinter der Synagoge begraben.
In der Nacht vom 9.-10. November um etwa 02.30 Uhr wurden wir vom Lärm berstender Fenster und Türen geweckt. Ein halbes Dutzend Sturmtrupps traten ein und sagten mir: ‚Sie sind verhaftet! Anziehen! Mitkommen!’ Am 10. November 1938 wurden wir auf Lastwagen nach Buchenwald verschleppt, ohne Nahrung oder Wasser. Es gab keinen Kontakt zu unseren Familien. Bis zum nächsten Tag wusste Flora [Herberts Frau] nicht, ob nur ich verhaftet wurde oder ob alle Männer in der Gemeinde verhaftet waren. Ich war Schutzhaeftling #20974/Block 50.”
Von Themar am 9. zum 10. November hat man geschrieben: “In Themar alarmiert der Ortsgruppenleiter der NSDAP zur Protestaktion gegen die Juden. Unterstützt wird er von der heimischen SA und dem NS Kraftfahrkorps (NSKK). Wohnungen und Geschäfte jüdischer Bürger werden durchsucht und verwüstet. Zu einem Brandanschlag gegen die einstige Synagoge kommt es nicht, da sie in einer Häuserzeile steht. 18 Männer werden im Rathaus zusammengetrieben und mit den Juden aus Marisfeld ins KZ Buchenwald verbracht.”
Dr. Ernst Ledermann hat versucht, den Themarerjuden zu helfen. Ein Wirtschaftsprüfer in Gotha und selbst in Buchenwald verhaftet, hat er in Namen der Männer Briefe an die Gestapo in Weimar geschrieben. Die Briefe waren einen Rechtsbehelf für die Freilassung der Gefangenen.
Sowohl Max Müller II als auch Herbert Müller kehrten aus Buchenwald zurück, ebenso wie 15 andere — Moritz Levinstein aber, der geliebte Lehrer von Themar, hat das nicht überlebt.
Nach der Reichspogromnacht war allen klar, welche Absichten die Nazis hatten. Die jüdischen Familien in Themar machten Pläne, wie sie Deutschland so schnell wie möglich verlassen konnten. Es gelang Herbert Müller und seiner Frau, Flora Müller geb. Wolf, und seiner Schwiegermutter, Frieda Wolf, geb. Mayer, zu entkommen. Im Frühling 1941 reisten sie nach Berlin und anschließend in einem versiegelten Zug nach Lissabon und in die Vereinigten Staaten. Sie waren die letzten von der Familie Müller die fliehen konnten — Herberts jüngere Brüder waren schon in Schweden und in Palästina. Aber ihre Eltern, Klara Müller (geb. Nussbaum) und Max Müller II konnten Deutschland nicht verlassen und wurden am 10. Mai 1942 in das Ghetto Belzyce deportiert und dort ermordet.
Siehe auch: ,,Innige Küsse: die Briefe und Postkarten von Max u. Clara Müller an ihre Söhne 1938-1942.“