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wie wir die Geschichte lernen. . Dankward Sidow über seine Arbeit

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Zwischen Dezember 1938 und Mai 1942 schrieben Clara und Max Müller regelmäßig an ihre beiden schon ausgewanderten Söhne, an Meinhold in Schweden und Willi in Palästina. Nur der ältester der drei Söhne, Herbert, war anfangs noch bei seinen Eltern in Themar, ehe er im Juli 1941 mit seiner Flora der Verfolgung entkommen konnte. Ihnen gelang die Ausreise nach den USA. Die Eltern jedoch hatten dieses Glück nicht; trotz aller Bemühungen war kein Land bereit, sie als Flüchtlinge aufzunehmen.

Die Briefe und Postkarten gewähren einen Blick in die Welt der jüdischen Gemeinde zu Themar während dieser schlimmen Jahren. Wir erleben die Unruhe, ja die Verzweifelung, die  durch die NS-Maßnahmen in die Gemeinde gebracht wird, wie die Juden nach Auswegen suchen. Am 8. Mai 1942 schrieben Clara und Max die letzte Karte — „wir verreisen morgen früh.” Am 9. Mai verließen sie Themar — für immer. Sie wurden „nach Osten“ deportiert, nach Bełżyce bei Lublin.

Wir danken den Mitgliedern der Familie Müller, dass wir diese Korrespondenz veröffentlichen dürfen. Dankward Sidow, Hamburg, ein Freund der Familie Müller, hat die Transkription der altdeutsch abgefassten Korrespondenz in die lateinische Schrift besorgt. Dankward hat folgendes über seine Arbeit geschrieben:

„Eigenartig – ein Hamburger transkribiert während der 1930er Jahren in deutscher Schrift verfaßte Briefe und Postkarten des jüdischen Ehepaars Müller, die aus dem kleinen thüringischen Städtchen Themar nach Palästina und Schweden geschrieben wurden. Wie es dazu kam, ist eine längere, zum Teil aus Zufällen zustande gekommene Geschichte. Zu verwickelt, um sie dem Lesern zuzumuten.

In Schweden und in Israel fanden sich noch Briefe und Postkarten aus dieser Zeit der NS-Judenverfolgung, nur waren sie in einer inzwischen ungebräuchlichen Schrift verfaßt – in der deutschen, einst von den großen Geistern, auch von Heine, und in allen Ämtern als Kanzleischrift benutzt, die heute oft als sog. Sütterlin-Schrift bezeichnet wird.

Um sie für die Nachforschung der jüdischen Schicksale auszuwerten, waren sie in die lateinische Schrift zu übertragen — aber wer kann das heute noch?

Rebecka Müller, die Schwiegertochter des Ehepaares Müller, mit der ich durch einen der oben erwähnten Zufälle vor 15 Jahren bekannt geworden war und zu der sich derweil eine herzliche Freundschaft entwickelt hat, warf Anfang des vorigen Jahres diese Frage in einer Mail auf.

Ja, ich kann das noch — antwortete ich Rebecka und erkläre mich zur Transkription bereit, zumal mich das schicksalhafte deutsch-jüdische Verhältnis stets interessiert hat.

Schon ein paar Tage nach dieser Zusage trafen aus Vancouver die ersten Originalkopien von Postkarten als Anhänge bei mir zur Bearbeitung ein. Es waren zunächst solche mit Grüßen von hier und dort in Deutschland aus den Jahren 1931 bis 1934, aber auch solche, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre zeigen.

Briefe von Max Müller II und seiner Frau Clara aus der Zeit ab 1938 an Meinhold folgten, dem altersmäßig mittleren der drei Müllersöhne, der nach Schweden ausgewandert war. Sie zeigen, wie besorgt die (viel mehr gefährdeten) Eltern um ihren Sohn in der (sicheren) Fremde waren. Und dann folgten bald die vielen Briefe nach Palästina, wohin der Jüngste der Müllersöhne nach einer Vorbereitungszeit, einer sog. Jugend-Aliyah, in Hamburg-Rissen ausgewandert war.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß Herbert, der Älteste der drei, nach Amerika emigrierte.

Wie endeten die Leben der Familie Müller II aus Themar?
Die Eltern, Max und Clara, ermordet 1942 in Bełżyce/Polen
Herbert verstorben 1994 in Nassau NY/USA, Meinhold verstorben 1993 in Göteborg / Schweden
Als einziger lebt noch Willi, der Jüngste, in Israel.
[Anmerkung: Willi Müller verstarb im Jahr 2013]

Die Sammlung von den Briefen und Postkarten von Clara u. Max Müller an ihre Söhne ist hier zu finden.