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Die Familien von Selma Stern (geb. Schloss, verw. Bär)

Links: Adalbert Stern, Elli Bär Plaut, Artur Plaut, Selma Stern mit Hanna Karola Plaut, Themar ca 1935. Foto: Sammlung Plaut

Selma Stern (geb. Schloss, verh. Bär, später Stern) lebte dreißig Jahre lang in Themar. Sie heiratete zweimal und zweimal wurde sie Witwe. Mit ihrem ersten Ehemann, Emil Bär (1878-1913), hatte sie eine Tochter, Elli, und mit ihrem zweiten Mann, Hermann Stern, hatte sie einen Sohn, Adalbert. Widerstrebend verließ Selma Stern im Frühjahr 1940 Themar, in der Hoffnung, der Nazi-Tyrannei durch Auswanderung entfliehen zu können. Obgleich Selma selbst nicht entfliehen konnte, konnten ihre Nachkommen — ihre beiden Kinder, ihr Schwiegersohn und ihre Enkelin — auswandern. Deren Familien leben heute gut und erfolgreich in England und in den Vereinigten Staaten.

Durch Selma haben wir einen guten Einblick in das Leben einer jüdischen Familie in Themar zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nicht nur wissen wir vom Leben Selmas in Themar, sondern auch wie und wo ihre Verwandten anderswo in Deutschland lebten, wo ihre Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen lebten. Obgleich unsere Kenntnisse noch unvollständig sind, kennen wir heute schon etwa 30 Familienmitglieder aus Selmas Familie, die zwischen ca. 1800 und 1944 in Deutschland lebten. Diese Seiten erzählen etwas von dieser Geschichte.

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  November 2015 — die Enkelin von Selma Stern u. Sondheim v. d. Rhön 

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Heute wissen wir mehr über die Familie der Mutter von Selma, Philippine Reis, als über die Familie ihres Vaters, Samuel Schloss. Selmas Urgroßeltern waren Nathan und Sara Reis. Nathan Reis war ein Kaufmann in Oberwaldbehrungen in Unterfranken, Bayern. Juden hatten sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Oberwaldbehrungen angesiedelt: im Jahr 1816 gab es 107 jüdische Einwohner in einer Gesamtbevölkerung von 323 (33,1%); im Jahr 1837 war die jüdische Bevölkerung auf 130 angestiegen, jetzt 38% der Gesamtbevölkerung des Ortes von 340. Bis zur Mitte des Jahrhunderts hatte sich die jüdische Gemeinde Oberwaldbehrungen weiter entwickelt und besaß eine Synagoge, eine Grundschule, eine Mikva und einen eigenen Friedhof.

Selmas Großvater, Alexander Reis, wurde in Oberwaldbehrungen im Jahre 1835 geboren. Er heiratete Jette Schloss und sie hatten vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter, die alle in Oberwaldbehrungen geboren wurden. Philippine Reis (Selmas Mutter), geb. 1861, war das älteste Kind. Dann folgten zwei Söhne, Louis, geb. 1866, der bereits im Alter von drei Jahren verstarb, und Salomon, geb. 1869. Die jüngste Tochter, Rosa, wurde im Jahr 1872 geboren.

Alexander und Jette lebten bis zu ihrem Lebensende in Oberwaldbehrungen und waren nicht nur in der jüdischen Gemeinde sondern auch in der Stadt tiefverwurzelt. Die Töchter zogen nach der Heirat in andere Städte zu ihren Männern: Philippine ins 4 km nördlich gelegene Sondheim vor der Rhön und Rosa in das 40 km südlich gelegene Obbach. Leider verloren Alexander und Jette zu früh ihre beiden Söhne: wie oben erwähnt, lebte Louis nur drei Jahre; und im Jahre 1915 verstarb Salomon an einem Herzinfarkt. Jette starb im Jahr 1917, Alexander ein Jahr später im Jahr 1918.

Blick vom Osterberg, Sondheim vor der Rhön (see map). Foto: Harald Götz.

Selmas Mutter war Philippine Reis, geb. 1861 in Oberwaldbehrungen. Ihr Vater war Samuel Levi Schloss, geb. 1856 in Oberwaldbehrungen. Samuels Eltern waren Jakob Schloss aus Oberwaldbehrungen und Marianne Bär aus Marisfeld in Thüringen.

Im Dezember 1886 haben Philippine Reis und Samuel Schloss geheiratet. Im Juli 1888 wurde Selma, ihr erstes Kind, geboren. Im folgenden Jahr zogen Samuel, Philippine, und Selma ins 4 km nördlich gelegene Sondheim vor der Rhön um.

Hier wohnten sie im Haus Nr. 9 (jetzt Bad Neustädter Str. 2) an der Ecke von zwei stark befahrenen Straßen, der Bad Neustädter- und der Nordheimer Straße. Mit ihrer Gewerbeerlaubnis konnten sie Textil- und “Kolonialwaren” — so bezeichnete man damals von weither importierte Lebensmittel wie Kaffee, Tee, Zucker, Tabak usw. — verkaufen. Haus Nr. 9, zu dieser Zeit noch ohne den späteren Anbau auf der hinteren Seite des Haupthauses, diente sowohl als Wohn- als auch als Geschäftshaus. Die Familie Schloss war die einzige jüdische Familie in Sondheim und gehörte der jüdischen Gemeinde in Nordheim vor der Rhön.

Das „Schloss Haus“, wie es noch heute heisst, liegt an der Ecke von Bad Neustädter und Nordheimer Straßen. Die Eingangstür des Hauses ist unverändert. In den frühen 1900er Jahren trat man durch eine Tür von der Seite in das Geschäft ein (später wurde die Tür durch ein Fenster ersetzt). Das Anwesen reicht bis zum Ende des weissen Zauns. Der hintere Anbau mit der Markise über der Tür wurde erst nach dem zweiten Krieg errichtet. Foto: E. Böhrer, 2009.

Samuel und Philippine lebten mit Selma und ihren drei Geschwister  — Rosa (geb. 1891), Julius (geb. 1893) und Minna (geb. 1895) — in Sondheim.

Ebenso wie ihre Mutter und ihre Tante Rosa früher, zogen Selma und Minna nach ihrer Heirat von Sondheim fort: im Jahr 1910 heiratete Selma Emil Bär aus Marisfeld und zog ins 50 km östlich gelegene Themar, wo die Bär/Baer Familie ein erfolgreiches Unternehmen gegründet hatte. Selma und Emil hatten eine Tochter, Elli. Als Emil im Jahre 1913 verstarb, blieb Selma weiter in Themar und heiratete Hermann Stern, ein Cousin von Emil, mit dem sie im Jahr 1917 einen Sohn, Adalbert, hatte. Minna, die jüngste Tochter von Samuel und Philippine, heiratete im Jahr 1919 Carl Katzenstein aus Fulda und zog zu ihm in seine 50 km westlich gelegene Heimatstadt. Rosa, die ledig blieb, wohnte weiterhin bei ihren Eltern in Sondheim.

Samuel und Philippine verloren ihren Sohn, Julius, im ersten Weltkrieg: im Februar 1915 wurde der 22-jährige zum Kriegsdienst eingezogen und ist Ende Juli 1916 in der Schlacht an der Somme gefallen. Sein Name ist auf dem Kriegerdenkmal auf dem Sondheimer Friedhof vermerkt — der Friedhof liegt schräg gegenüber dem Schloss Haus auf der anderen Straßenseite.

Links: Kriegerdenkmal in Sondheim vor der Rhön für die Toten des Ersten Weltkriegs. Rechts: Blick vom Schloss Haus über die Strasse zum Friedhof. Foto: Elisabeth Böhrer, 2009.
Julius Schloss name
Das Sterbedatum am Denkmal ist falsch: er starb am 24. Juli 1916, die Nachricht von seinem Tod kam in Sondheim am 25. Juli an. Foto: E. Böhrer, 2009.
Phillipine Reis Schloss, 1861-1935. Credit: Sammlung Stern
Georgstrasse 3, Themar. Foto: Lengemann, 2009.

Nach dem ersten Weltkrieg lebten Samuel und Philippine und Rosa weiterhin in Sondheim. Im Jahr 1925, als die Gewerbeerlaubnis abgelaufen war, setzten sie sich zur Ruhe und lebten zunächst weiter in Sondheim.

Dann aber, nach mehr als 40 Jahren in Sondheim, entschieden sich Samuel und Philippine, Sondheim zu verlassen. Wir wissen das genaue Umzugsdatum nicht, aber im Herbst 1935 waren Samuel, Philippine und Rosa sicher in Themar, da ihre Namen in der Liste der Themarerjuden vom 1 Oktober 1935 aufgeführt sind.

Samuel, Philippine und Rosa wohnten  in Themar in einem Haus in der Georgstraße 3. Selma, deren zweiter Mann, Hermann, im Jahre 1933 gestorben war, lebte in der Nähe auf dem Marktplatz (Markt 8) zusammen mit ihrer Tochter, Elli, und ihrem Schwiegersohn, Artur Plaut. Eine Enkelin, Hanna Karola, wurde im Juni 1935 geboren.

Im Oktober 1935 starb Philippine im Alter von 74 Jahren. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Marisfeld begraben.

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Für die nächsten drei Jahre, zogen Samuel, 79 Jahre alt, und Rosa, 44 Jahre alt, in verschiedene Haushalte: Samuel zog regelmäßig zwischen seinen Töchtern Selma in Themar und Minna in Fulda hin und her. Rosa war auch regelmäßig bei ihren Schwestern, aber sie war auch für einige Zeit in Geroda bei Brückenau — warum und für wie lange wissen wir nicht. Im Frühjahr 1938 war Rosa sicher bei Selma am Markt 8 in Themar, da die Liste “Mitglieder der Kultusgemeinder Themar vom 7, März 1938” Rosas Name enthält.

Im Januar 1939 zog Samuel von Fulda nach Bad Nauheim, um im ,,Israelitischen Männerheim” zu wohnen. Anfang des 20. Jahrhunderts, als Bad Nauheim einer der begehrtesten Kurorte Europas war, wurden ein ,Männerheim‘ und ein ,Frauenheim‘ mit großer öffentlicher Beteiligung eröffnet. Die Häuser lagen in der Frankfurter Straße, einer der elegantesten Straßen der Stadt.

Von 1939 an, aber, wurden beide Häuser zu einer der letzten Zufluchtsstätten für ältere Juden und bald danach auch für jüngere Juden, vor allem für unverheiratete, allein stehende Juden, die nicht mehr bei Nicht-Juden mieten und/oder wohnen durften.

bad nauheim street

Samuel Schloss, 1856-1939. Credit: Sammlung Stern

1939-1942
In den letzten Monaten vor dem Zweiten Weltkrieg, konnten einige Kinder und Enkel von Samuel und Philippine Schloss Deutschland und Europa verlassen. Im Februar 1939 waren Minna und Carl Katzenstein erfolgreich nach England entflohen. Adalbert Stern, Selmas Sohn, und Artur Plaut, ihr Schwiegersohn, sind ebenso im Frühjahr 1939 nach England ausgewandert.

Ab Mai 1939 waren also Samuel Schloss, seine beiden Töchter, Selma und Rosa, sowie Selmas Tochter und Enkelin, Elli und Hanna Karola, noch in Deutschland. Mitte Mai 1939 zog Rosa Schloss nach Bad Nauheim. Da sie keine eigene Wohnung mieten durfte, wohnte sie im ,,Israelitischen Frauenheim.“ Selma blieb in Themar mit Elli und Hanna Karola Plaut.

Am 3. August 1939 starb Samuel Schloss, im Alter von 83 Jahren. Selma reiste von Themar nach Frankfurt am Main, um dort seine Beerdigung zu organisieren. Er wurde im ,,neuen“ jüdischen Friedhof in der Eckenheimer Landstraße 238 begraben. Nach der Beerdigung kehrte Selma nach Themar zurück. Wir glauben, daß Rosa Selma nach Themar begleitete, da die „Liste der Juden“ von Themar vom 6. Oktober 1939 auch Rosas Namen enthält.

Frankfurt cemetery
Der Grabstein von Samuel Schloss (1856-1939) auf dem jüdischen Friedhof in Frankfurt am Main, Eckenheimer Landstrasse 238. Das Geburtsdatum auf dem Grab ist falsch; Samuel war im Jahre 1856 geboren, nicht im Jahre 1836. Derartige Fehler waren damals nicht ungewöhnlich. Foto: E. Böhrer 2009

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Nach Kriegsbeginn im September 1939 wurde die Situation drastisch schlechter: irgendwann am Ende des Jahres 1939 oder Anfang 1940, kehrte Rosa Schloss nach Bad Nauheim zurück und lebte wieder im Frauenheim, das jetzt offiziell ein ,,Judenhaus“ war. Im Frühjahr 1940 hat Selma Stern (geb. Schloss, verw. Bär) Themar endgültig verlassen. Zusammen mit ihrer Tochter Elli und ihrer Enkelin Hanna Karola reiste sie nach Berlin, um in der Lage zu sein, Deutschland zu verlassen, sobald die drei die Reisepapiere in Händen hielten. Achtzehn Monate später, erhielten Elli und Hanna Karola, aber nicht Selma, die notwendigen Papiere und im August 1941 verließen sie Europa über Lissabon. Selma blieb in Berlin wo sie im Judenhaus in der Rankestrasse 9 wohnte. Am 25. Januar 1942 wurde Selma in Berlin mit 1044 anderen Juden zusammen-getrieben und nach Riga deportiert. Es gibt für sie keine offizielle Sterbeurkunde. Sie wurde 54 Jahre alt.

Später im 1942 wurde Selmas Schwester, Rosa, auch ermordet. Mitte September wurde sie, mit den anderen Juden von Bad Nauheim und weiteren Orten, in Darmstadt zusammengezogen. Hier wurden mehr als zweitausend Juden in der Justus-Liebig-Schule vom 15. bis zum 30. September inhaftiert. Die deutschen Behörden richteten die Schule als ,,Durchgangslager“ ein —  zur Flucht gab es keinerlei Möglichkeit. Am 27. September 1942 begannen die Deportationen. Am 30. September 1942 wurde Rosa, zusammen mit 883 anderen Juden, ,,nach Osten“ deportiert. Die Aufzeichnungen geben keinen exakten Bestimmungsort der Transporte an, aber es gibt Anzeichen, dass es höchstwahrscheinlich Treblinka war. Es gibt keine offizielle Sterbeurkunde für Rosa. Sie wurde 51 Jahre alt.

Selmas Sohn, Tochter, Schwiegersohn und Enkelen konnten in England und in den Vereinigten Staaten auswandern. Adalbert ist in 1992 verstorben und Ello in 2009. Ihre viele Nachkommen leben gut und erfolgreich.

Quellen
Wir möchten Frau Elisabeth Böhrer aus Sondheim vor der Rhön für ihre großzügige Unterstützung bei der Abfassung danken.
Alemannia-Judaica, „Das Israelitische Frauen- und das Israelitische Männerheim,“ http://www.alemannia-judaica.de/bad_nauheim_synagoge.htm
Alemannia-Judaica, Oberwaldbehrungen (Stadt Ostheim v.d. Rhön, Landkreis Rhön-Grabfeld) Jüdische Geschichte/Synagoge
Alemannia-Judaica, Obbach (Gemeinde Euerbach, Kreis Schweinfurt) Jüdische Geschichte/Synagoge
Alemannia-Judaica, Bad Nauheim (Wetteraukreis) Jüdische Geschichte/Synagoge
Ancestry.com Databases.
Freie Universität Berlin. Zentralinstitut fr Sozialwissenschaftliche Forschung, Gedenkbuch Berlins der Jüdsichen Opfer des Nationalsozialismus: Ihre Namen mögen nie vergessen werden! 1995.
Deutsches Bundesarchiv. Gedenkbuch.
Jüdisches Museum, Frankfurt am Main.
Stadtarchiv Themar.
Scheffler, Wolfgang, and Diane Schulle, Buch der Erinnerung: Die ins Baltikum Deportierten Deutschen, Österreichischen und Teschechoslowakischen Juden, 2003.
Stadtarchiv Ostheim
Stadtarchiv Themar
Nothnagel, Hans, hrsg., Juden in Südthüringen geschützt und gejagt: eine Sammlung jüdischer Lokalchroniken in sechs Bänden, 1995.
Wolf, Siegfried et al. Juden in Thüringen 1933-1945: Biographische Daten, 2000-2002.