Eine Schachtel mit Briefen in Deutsch – und das Vancouver Holocaust Bildungszentrum Freiwilligenprogramm (VHEC) – brachte Andy Rosengarten und mich im Juni 2006 zusammen. Andy, der nicht deutsch liest, brachte diese Schachtel zum VHEC, um Übersetzungshilfe zu bekommen und das Zentrum rief mich an, eine deutschsprachige Freiwillige.
Als wir uns zuerst trafen, erzählte mir Andy die Geschichte seines Vaters, Manfred, den Briefschreiber, wie er wusste. Manfred Rosengarten wurde 1921 in dem Dorf Themar, Deutschland, als der ältere von 2 Söhnen von Paul und Bertha Rosengarten geboren. Er wohnte mit seiner Familie in Themar bis November 1938, als er plötzlich in Buchenwald, mit seinem Vater Paul und Bruder Erich, eingesperrt wurde. Mit ihrer Freilassung, verließ Manfred und seine Familie im Mai 1939 Deutschland in Richtung Shanghai und das Hongkew Ghetto. Die Familie reiste 1947 nach Amerika; Manfred blieb in der San Francisco Bay Gegend, während die anderen in die Oststaaten zogen. Er heiratete Eveline Berger, die er auf dem Schiff nach Amerika getroffen hatte, und sie hatten 2 Kinder, Andy und Linda. Manfred Rosengarten starb im Oktober 1987.
Andy erzählte mir auch, wie er sich zunehmend für die Familiengeschichte interessiert hatte, nach dem Tod von seiner Mutter 1996. Seine erste Tätigkeit war, verschiedene Familienzweige der Rosengartens zu kontaktieren, die Deutschland nach Australien, Argentinien oder sonst wohin verlassen hatten. Er versenkte sich auch in ein riesiges Fotoalbum mit Notizen, das Manfred für seine Kinder und Enkel vorbereitet hatte – es beinhaltete Bilder und einen detaillierten Kommentar in Englisch, über das Leben in Themar und Shanghai. Neugierigerweise brachte Andy dann die Schachtel mit den deutschen Briefen in das VHEC. Wir wussten nicht was uns erwartete.
In der Schachtel fanden wir beide Seiten einer bemerkenswerten 4jährlichen Korrespondenz (1983 – 1987) zwischen Manfred, 62 Jahre alt, und einer kleinen Gruppe von nicht jüdischen Schulfreunden, die er zuletzt in den 30er Jahren gesehen hatte. Ein kurioser Zufall hatte zu dieser Korrespondenz geführt: Manfred wollte neue Bilder von Themar für sein Album und die Schwester eines kalifornischen Freundes, die in Dresden lebte, war bereit einige zu machen. An dem Tag wo die Fotos gemacht wurden, passierte es, dass Gisela auf einen älteren Themarer Bürger traf, Karl Saam, der sich an die Rosengartens erinnerte und lud Manfred über Gisela ein, ihm zu schreiben.
Und so, am 21. August 1983, schrieb Manfred Herrn Saam und bat ihn, den Brief an seine früheren Schulkameraden zu verteilen, wenn irgendwelche von ihnen interessiert waren, von ihm zu hören. Herr Saam tat das.
Das Resultat war eine Lawine von Briefen gewesen, die den Ozean zwischen Manfred und der kleinen Gruppe von Klassenkammeraden überquerten, die noch in Themar lebten. Manfreds exakte Erinnerung befähigte ihn, sich an Details von Stellen und Ereignissen zu erinnern, als wären diese gestern passiert. Eines Abends zeichnete er eine Karte von Themar wie er sie kannte, zwischen 9.00 Uhr abends und 4.00 Uhr früh, exakt bis auf die kleinsten Details. Zu jedem Freund hatte Manfred spezielle Vorkommnisse ihrer Freundschaft in Erinnerung: bei einem, bat er um Vergebung ihn 45 Jahre zuvor geschlagen zu haben; bei einem anderen, erinnerte er sich an Bier-Trink-Gelage in den Hintergassen von Themar. An alle schrieb er: Es hat eine lange Zeit gebraucht, aber ich habe meinen Ärger überwunden und würde lieber in Richtung Verständnis arbeiten, bevor es zu spät ist. ,,Es würde,“ so setzte er fort, ,,mich sehr interessieren, zu erfahren, welche Erfahrungen du im Krieg gesammelt und was du beobachtet hast. Die Wahrheit wird uns frei machen. Echte Zeugen sind immer besser als Bücher.“ Die ehemaligen Klassenkammeraden antworteten, indem sie Manfred von ihren Kriegserfahrungen berichteten. Einer war in Warschau gewesen, in den Zeiten der Belagerung; er schreibt, dass er 2 jüdische Mädchen gerettet hätte, obwohl er nicht wusste dass er ihnen das Leben gerettet hatte. Ein anderer erzählte, dass er in Afrika gedient hatte. Einer hatte den Sinn, dass in den Briefen an Manfred, die Schulfreunde das erste Mal einige ihre Gefühle ausdrückten, Deutsche in Nazi Deutschland zu sein.
Und in den Briefen erzählte Manfred die volle Geschichte seiner Teenagerjahre in Nazi- Deutschland: er lebte nicht mehr oder weniger friedlich zuhause in den 30er Jahren, als Andy geglaubt hatte. Statt dessen fühlte er von dem Moment an, als die Nazis die Macht übernahmen die Stiefel der lokalen Nazi Tyrannen.
Er wurde genötigt, im Alter von 14 Jahren die Schule zu verlassen und verließ Themar 1936 – für immer. Die nächsten 4 Jahre schwirrte er in Nord–Ost–Deutschland herum, er arbeitete auf einem Friedhof, in Fabriken und auf verschiedenen Bauernhöfen, um sich so viele Fähigkeiten zu erwerben, wie er konnte, um für andere Welten bereit zu sein. Zwischenzeitig, zogen seine Eltern in die größere Stadt Meiningen, hoffend der ständigen Verfolgung des kleines Ortes Themar zu entkommen und Arbeit für Paul zu finden. Manfred drückte exakt aus was seiner Familie im November 1938 passierte: Manfred war grade zufällig zuhause mit seinen Eltern und wurde mit seinem Vater Paul, und anderen Männern von Meiningen, verhaftet. Erich, Manfreds jüngerer Bruder, wurde irgendwo eingesperrt. Beide, Paul und Erich, wurden in Buchenwald eingesperrt; Manfred nicht. Am morgen des 10. November ließ die Polizei Manfred gehen – den einzigen Mann in Meiningen lasst gehen. Er brach auf, bis zur Abfahrt der Familie nach Shanghai im Mai 1939, hetzte durch Deutschland glücklicherweise – immer einen Schritt vor der Gestapo. Trotz seiner grauenhaften 6-monatigen Flucht glaubte Manfred, dass die Erfahrungen seines Bruders in Richtung Zukunftsaussichten seines Lebens, für ihn leichter waren: ,,Ich war niemals in einem KZ,“ schrieb er, ,,mein 15-Jahre alter Bruder war Ich glaube, das hat ihm eine vollständig andere Perspektive als meine gegeben.“
Für Andy hat das Wissen der ganzen Geschichte, der Teenagerjahre seines Vaters, einen Leistungsprozess ausgelöst. 1975 zog Andy nach British Columbia, eine Zeit, als Manfred immer noch gegen seine Schmerzen, Wut und emotionalen Frustrationen über die Vergangenheit kämpfte. Andy wusste nichts von den Wiederverbindungen mit den Themarer Freunden seines Vaters und die Heilung die sich zwischen Manfred und seiner Vergangenheit ereignete. Jetzt 20 Jahre nach seines Vaters Tod, erlauben die Briefe Andy, die richtigen Konturen in seines Vaters Lebens zu begreifen, zu wissen, was seinem Vater wiederfuhr, wo er war, wie er fühlte und was ihn für den Rest seines Lebens beeinflusste. Andy fühlt dass er nicht nur mehr Einblicke in seines Vaters eigene Erfahrungen hat, er hat auch größere Einblicke in die Eröffnung von wunderbaren Möglichkeiten – Konzept von Tzedaka (Wohltätigkeit) – die Manfred ihm gegeben hat. Wie die Briefe Manfred mit seiner eigenen Geschichte verbunden hatte, so verbinden die Briefe jetzt Andy mit seinem Vater.
Für mich, als Freiwillige, die mit Andy an den Briefen seines Vaters arbeitete, ist es beides gewesen, ernüchternd und erheiternd zu gleich. Ich wurde ein VHEC-Freiwilliger 2003, deutschsprachige Sachkenntnisse und einen akademischen Hintergrund in der deutschen Geschichte brachte ich ein. Jede Übersetzungsmöglichkeit ist lohnend gewesen, aber dieses Projekt ist etwas Besonderes gewesen: Da der Schlüssel, der neuen Verbindung zwischen Vater und Sohn ein seltenes Privileg ist.
Bis zum Ende seines Lebens war Manfred Rosengarten gespannt auf Neuigkeiten aus Themar: ,,In all diesen Jahren, hatte ich ein starkes Heimweh nach Themar und ich weiß nicht, wie oft ich an den Ort gedacht habe.“ Dem Ende seines Lebens nahe, schrieb er: ,,Es kann vielleicht ein bisschen dumm sein, so vereinnahmt von der Vergangenheit zu sein, es tut aber meiner Seele gut und ich habe den Glauben, dass es uns allen gut tut.“ Alle, die die Geschichte kennen, stimmen zu: Auf seinem Begräbnis am 1. November 1987 drückte es der amtierende Rabbi gut aus:
„Trotz seiner Erinnerung begann Manfred in den letzten wenigen Jahren eine erstaunliche Anstrengung, den Deutschen über den Atlantik die Hände zu reichen, die er einst in Themar kannte, seiner Heimat.. . . Manfred war nicht ein Mann, der in seiner Vergangenheit eingeschlossen war. Er wollte alle Freisprechen. Er konnte nicht glauben, dass sein (nicht jüdisches) Stadtvolk das getan haben könnte, was sie seinem Volk angetan haben. Wie konnten Sie aufhören menschlich zu sein? Er konnte nicht glauben, dass zwischen ihnen nicht länger Verbindungen sein sollten. Sie hatten so viel geteilt, Manfred wollte den Schrecken ausrotten, der den Menschen von Menschlichkeit entfernte. Er wollte ihren Verrat ungeschehen machen. Ein geistiger Arbeiter, der dazu bestimmt war, die menschlichen Tränen zu stoppen, daran glaubend, dass die Menschen im Grunde gut sind, das Böse und die Zukunft der Hoffnungen teilend. Das war der Kern seiner Menschlichkeit.“
Sharon Meen, „Menschlichkeit,“ Zachor, Newsletter of the Vancouver Holocaust Education Centre, January 2008.