Themar – „Ein reicher Schatz war es, der da vor den Besuchern im Gemeindesaal der evangelischen Kirchgemeinde Themar ausgebreitet lag. Rund 300 Jahre Geschichte des Werrastädtchens ließen die Zeitdokumente auferstehen.
Jedes Mal, wenn die Turmbekrönung einer Schönheitskur unterzogen werden muss, kommen die im Turmknopf enthaltenen Dokumente ans Tageslicht. Und sie werden von der Kirchgemeinde genau unter die Lupe genommen – so wie in der vorigen Woche in Themar.
Doch oft geschieht dies in einem engeren Kreis, wie bei der Öffnung im Jahr 1950, als nur der Gemeindekirchenrat dem beiwohnen durfte. 2008 ist‘s anders: Die Öffentlichkeit war eingeladen. Kein freier Platz im Gemeindesaal, als Pfarrer Winfried Wolff zur Besichtigung des Inhalts der Blechkapseln einlud.
Das älteste Dokument, das im Turmknopf der Stadtkirche St. Bartholomäus aufbewahrt worden ist, stammt aus dem Jahr 1717. Es ist eine Gedenkmünze mit dem Bildnis des Reformators Martin Luther, dazu ein Predigttext zum Gedenken an den 200. Jahrestag der Reformation.
Chronologisch geordnet waren die Dokumente im Gemeindesaal ausgelegt, mit allen Ergänzungen, die bei den einzelnen Öffnungen des Turmknopfes in den Jahren 1923, 1950, 1964 und 1992 dazu gekommen sind. Pfarrer i.R. Arnd Morgenroth, dessen Vater viele Jahre die Pfarrstelle der Stadtkirche St. Bartholomäus inne hatte, hatte es übernommen, die Dokumente zu erläutern.
Berührend dabei war, dass er Dokumente seines Vaters im Turmknopf entdeckte. Dessen Bitte, dass auch sein Sohn Arnd Theologie studiere, hatte er zwar verwirklicht, aber nicht dessen Wunsch, auch die Pfarrstelle in Themar zu übernehmen. Es hatte ihn hinausgezogen in andere Regionen Thüringens. Morgenroth durfte nun in den ersten Monaten seines Ruhestandes erstmals als Pfarrer vor der Kirchgemeinde Themar stehen.
„Den kenne ich noch …“
Auf einer Liste vom 12. Oktober 1950 mit Spendern für die Kirchgemeinde entdeckte er dann gar seinen eigenen Namen: „… Arnd Morgenroth, acht Jahre, zwei Mark“. Und weiter las er: „Ursula Böttcher, elf Jahre, zehn Pfennig-West“. Das Mädchen hatte das Geld von einer Reise zu ihren Verwandten im Ruhrgebiet (was ja 1950 noch möglich war) mitgebracht.
Je näher Arnd Morgenroth in die Gegenwart kam – Dokumente aus den Öffnungen von 1950 und 1964 – desto bewegter wurde es im Publikum. Da kamen Zwischenrufe beim Nennen des Namens eines Pfarrers: „Den kenne ich noch, der hat mich konfirmiert …“
Themars ehemaliger Bürgermeister Klaus Rönnick, der ebenfalls im Publikum saß, fand Dokumente seines Vaters – und auch andere Gäste wurden an enge Freunde ihrer Jugendzeit, an Lehrer, Pfarrer und andere stadtbekannte Personen erinnert. Wer sich mit Spenden oder durch unentgeltliche Arbeitsleistungen für die Kirchgemeinde verdient gemacht hatte, dessen Leistungen wurden dokumentiert und im Turmknopf für die Nachwelt erhalten.
Privates fand dabei ebenso das Interesse der Zuhörer wie die zeitgeschichtlichen Dokumente. Wenn Pfarrer Otto Störmer 1950 bei der Installation der ersten Telefonanschlüsse in Themar davon berichtet, wie sich „die Nachrichtentechnik sprunghaft entwickelt . . .“, ist das in der Zeit von Handys und Internet schon recht amüsant.
Vom kulturellen Leben im Werrastädtchen im Jahr 1950 ist die Rede, von der ersten Kirmesfeier nach zwölf Jahren Pause, vom Schulneubau, den Auftritten von Chor und Stadtkapelle. Und erwähnt ist auch, dass nun fast jede Familie in Themar ein Rundfunkgerät besitze.
Entbehrungen und Neubeginn
Die Handhabung der Lebensmittelkarten gibt Auskunft über das entbehrungsreiche Leben der Nachkriegszeit. Aber auch vom hoffnungsvollen Neubeginn nach den Kriegsjahren. Die Kirchgemeinde errichtete in einem Anbau an das Pfarrhaus den Gemeindesaal, in dem diese Veranstaltung stattfand.
Die ersten beiden der drei Glocken, die für Kriegszwecke abgebaut worden waren und eigentlich eingeschmolzen werden sollten, kamen 1949 wieder zurück. Die Kirche wurde nun auch für katholische Gottesdienste genutzt, weil durch die Umsiedler wieder mehr Katholiken in Themar wohnten. Dies geschah offenbar in bestem Einvernehmen, auch ohne intensive Bemühungen der Landeskirche um die Ökumene.
Von der dringenden „Katastrophenreparatur“ des Kirchturmes ist zu erfahren, der Anfang der 60er zur Gefahr geworden war, und der Schwierigkeit, nicht nur das Geld, sondern vor allem das Baumaterial aufzutreiben, das in dieser Zeit mit die größte Mangelware darstellte. Wenn da nicht in letzter Sekunde das Kreisbauamt Hildburghausen ein Einsehen gehabt hätte . . .
Der Uhrenbauer Karl Saam wird mit lobenden Worten bedacht. Er war es, der half, den Wetterhahn zu vergolden. Von einem Förderkreis ist die Rede, der sich gebildet hatte, um die Kirchenreparaturen zu unterstützen, der von den Rentnern und alleinstehenden Frauen mehr Spenden erhielt als von den „reichen“ Bürgern Themars.
Und immer wieder ist ein sehnlicher Friedenswunsch formuliert von den Pfarrern, die die Dokumente ergänzten. In allen drei Jahrhunderten zieht sich das wie ein roter Faden durch die Dokumente.
Zwei weit gereist Gäste waren von all dem besonders beeindruckt: Rolf Lengemann aus Mainz und Dr. Sharon Meen vom Holocaust-Institut Vancouver in Kanada, die derzeit die Geschichte der Juden in Themar erforschen wollen – ein weniger rühmliches Kapitel aus der Geschichte der Stadt Themar, das schon lange einer Aufarbeitung bedarf.
Bis zum 7. Juni 2008, wenn die Turmbekrönung der Stadtkirche St. Bartholomäus wieder aufgesetzt werden soll, hat die Kirchgemeinde noch Zeit, Geschehnisse seit der letzten Öffnung im Jahr 1992 zu dokumentieren, den Turmknopf mit aussagekräftigen Dokumenten aus diesen 16 Jahren zu ergänzen. Was wird hinzugefügt werden, was spätere Generationen genauso interessiert wie uns die bisherigen Zeitdokumente?“