Die Familie von Selma Stern (geb. Schloss)

L/r: Adalbert Stern, Elli Bär Plaut, Artur Plaut, Selma Stern mit Hanna Karola Plaut, Themar 1935 Credit: Sammlung Plaut

Selma Schloss Bär Stern lebte dreißig Jahre lang in Themar. Sie heiratete zweimal und war zweimal verwitwet. Mit ihrem ersten Mann, Emil Bär, hatte sie eine Tochter, Elli, und mit ihrem zweiten Mann, Hermann Stern, einen Sohn, Adalbert. Selma Stern verließ Themar 1940 widerwillig in der Hoffnung, zu emigrieren und der Nazi-Tyrannei zu entkommen. Sie selbst war zwar nicht erfolgreich, aber ihre Kinder, ihr Schwiegersohn und ihr Enkel, die alle auf dem Foto oben zu sehen sind, waren erfolgreich, und ihre Familien leben heute in England und den Vereinigten Staaten.

Durch sie erhalten wir einen Eindruck von Selmas reichhaltigem Leben, nicht nur in Themar, sondern auch anderswo in Deutschland, wo ihre Eltern und Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel und Cousins lebten. Zwar sind die Angaben noch unvollständig, aber wir haben jetzt sowohl Umrisse als auch Details von 30 von Selmas Nächsten und Liebsten, die zwischen ca. 1800 und 1944 in Deutschland lebten. Diese Seite erzählt etwas von dieser Geschichte.

Wir beginnen mit einem Überblick über Selmas Leben und Familie, beginnend mit ihren Ur- und Großeltern mütterlicherseits, ihren Eltern und Geschwistern und einem kurzen Überblick über ihr eigenes Leben zwischen 1888 und 1942. In den folgenden Kapiteln wird die Geschichte von Selmas Tante, Rosa Reis, und ihrer Familie zwischen 1872 und 1944 erzählt und ein detaillierter Blick auf das Leben von Selma, ihren Ehemännern und ihren Kindern in Themar zwischen 1910 und 1940 gegeben.

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Maternal Great-Grandparents & Grandparents: The Reises of Oberwaldbehrungen.

Derzeit wissen wir mehr über die Familie von Selmas Mutter, Philippine Reis, als über die Familie ihres Vaters, Samuel Schloss.

Selmas Urgroßeltern mütterlicherseits waren Nathan und Sara Reis. Nathan war Kaufmann in der kleinen Stadt Oberwaldbehrungen, Unterfranken, Bayern. Jahrhunderts hatten sich Juden in Oberwaldbehrungen niedergelassen: 1816 lebten in der 323 Einwohner zählenden Stadt 107 jüdische Einwohner (33,1 %); 1837 war die jüdische Bevölkerung auf 130 angewachsen, was einem Anteil von 38 % an der Gesamtbevölkerung von 340 Einwohnern der Stadt entsprach. Mitte des 18. Jahrhunderts verfügte die jüdische Gemeinde über eine Synagoge, eine Volksschule, eine Mikwe und einen eigenen Friedhof (gegründet 1842).

Der Großvater von Selma, Alexander Reis, wurde 1835 in Oberwaldbehrungen geboren. Er heiratete Jette Schloss und sie hatten vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter, die alle in Oberwaldbehrungen geboren wurden. 1861 wurde Philippine Reis, Selmas Mutter, als Älteste geboren. Es folgten zwei Söhne, Louis, geboren 1866, der nur drei Jahre lebte, und Salomon, geboren 1869. Die jüngste Tochter, Rosa, wurde 1872 geboren.

Alexander und Jette lebten ihr Leben in Oberwaldbehrungen und waren tief in der Stadt und der jüdischen Gemeinde verwurzelt. Ihre Töchter lebten in anderen Orten: Philippine 4 km. nördlich in Sondheim vor der Rhön und Rosa in Obbach, 40 km. südlich. Leider verloren sie ihre beiden Söhne: Louis wurde, wie bereits erwähnt, nur drei Jahre alt, und Salomon starb 1915 an einem Herzinfarkt. Jette starb 1917 und Alexander 1918.

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Eltern: Samuel & Philippine Reis Schloss

Die Mutter von Selma war Philippine Reis, geboren 1861 in Oberwaldbehrungen. Ihr Vater war Samuel Levi Schloss, der 1856 im selben Ort geboren wurde. Samuels Eltern waren Jakob Schloss aus Oberwaldbehrungen und Marianne Bär aus Marisfeld. Jakob und Marianne lebten in Oberwaldbehrungen und Samuel wurde 1856 geboren.

Im Dezember 1886 heirateten Philippine Reis und Samuel Schloss. Im Juli 1888 wurde Selma, ihr erstes Kind, geboren. Im folgenden Jahr zogen Samuel, Philippine und Selma 4 km nördlich in die Stadt Sondheim vor der Rhön. 

Blick vom Osterberg, Sondheim vor der Rhön. Kredit: Harald Göt
Das „Schlosshaus“ an der Ecke Bad Neustädter und Nordheimer Straße. Kredit: E. Böhrer, 2009

Hier besaßen sie das Haus Nr. 9 (heute Bad Neustädter Str. 2) an der Ecke von zwei belebten Straßen, der Bad Neustädter und der Nordheimer Straße. Ihr Gewerbeschein erlaubte ihnen den Verkauf von Textilien und „Kolonialwaren“, d.h. von importierten Lebensmitteln wie Kaffee, Tee, Zucker, Tabak und so weiter. Das Haus Nr. 9, zu dem damals noch nicht der Anbau an der Rückseite des Hauptgebäudes gehörte Haus, das sowohl als Laden als auch als Wohnhaus diente. In den frühen 1900er Jahren befand sich der Eingang zum Laden an der Seite (die Tür wurde durch ein Fenster ersetzt). Das Grundstück reichte bis zum Ende des weißen Zauns. Das Gebäude auf der Rückseite, dessen Tür ein Vordach hat, wurde nach dem Krieg hinzugefügt.

Samuel und Philippine zogen Selma und ihre drei Geschwister – Rosa (1891), Julius (1893) und Minna (1895) – in Sondheim auf. Die Familie Schloss war die einzige jüdische Familie in Sondheim und wurde als Teil der nahe gelegenen jüdischen Gemeinde Nordheim vor der Rhön betrachtet.

Wie ihre Mutter und Tante Rosa vor ihnen, verließen auch die Töchter, die heirateten, ihre Heimat: 1910 heiratete Selma Emil Bär und zog 50 km östlich nach Themar, wo seine Familie ein erfolgreiches Unternehmen, S. J. Bär, gegründet hatte. Selma und Emil bekamen eine Tochter, Elli. Als Emil 1913 starb, blieb Selma in Themar und heiratete Hermann Stern, mit dem sie 1917 einen Sohn, Adalbert, bekam. Minna, die jüngste Tochter, heiratete Carl Katzenstein aus Fulda und zog 1919 50 km nach Westen in seine Heimatstadt. Rosa, die ledig blieb, lebte weiterhin in Sondheim.

Samuel und Philippine verloren ihren Sohn im Krieg: Der 22-jährige Julius zog im Februar 1915 in den Krieg und starb Ende Juli 1916 in der Schlacht an der Somme. Sein Name wurde auf dem Kriegerdenkmal auf dem Friedhof von Sondheim eingraviert, der zufällig gegenüber dem Haus von Samuel und Philippine lag.

Links: Sondheim vor der Rhön Kriegerdenkmal für die Toten des Ersten Weltkriegs, Rechts: Blick vom Schloss über die Straße auf den Friedhof. Bildnachweis: Elisabeth Böhrer, 2009.
Julius Schloss name
Das Datum auf dem Denkmal ist falsch; Julius starb am 24. Juli 1916 und die Nachricht wurde am 25. Juli empfangen. Bildnachweis: E. Böhrer 2009

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1915-1938
Samuel und Philippine führten ihr Geschäft in Sondheim mit der Hilfe von Rosa bis 1925 weiter, als die Geschäftslizenz ablief. Samuel und Philippine zogen sich zurück und blieben in Sondheim.

Aber nachdem sie über 40 Jahre in der Stadt gelebt hatten, beschlossen Samuel und Philippine, Sondheim zu verlassen – wahrscheinlich wegen der Veränderungen, die die Nazi-Regierung durchführte.

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Eintrag im Stadtregister vom 17. Juli 1933, als Samuel Schloss mit Frau Philippine und Tochter Rosa nach Themar kam. Quelle: Stadtarchiv Themar, Ordner 109.
Philipine Reis Schloss, 1861-1935. Kredit: Sammlung Stern

Im Juli 1933 zogen die drei nach Themar, wo sie in der Georgstraße 3 eine Wohnung mieteten. Ihre Namen wurden im März 1935 in der Liste der 75 jüdischen Einwohner von Themar aufgeführt.  Selma, deren zweiter Ehemann Hermann 1933 verstorben war, wohnte in der Nähe am Markt (Markt 8). Ihre Tochter Elli und ihr Schwiegersohn Artur Plaut teilten sich dieses Haus mit ihr. Ihre Enkelin wurde im Juni 1935 geboren.

Georgstr. 1910
Georgstraße, Themar

Im Oktober 1935 starb Philippine im Alter von 74 Jahren und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Marisfeld begraben. In den nächsten drei Jahren zogen Samuel, 79 Jahre, und Rosa, 44 Jahre, in verschiedenen Haushalten um: Samuel wechselt regelmäßig zwischen der Haushalte von Selma in Themar und Minna in Fulda. Rosa tat das Gleiche, aber sie zog auch für eine Weile in die Stadt Geroda bei Brückenau – warum und für wie lange, wissen wir nicht. Im Frühjahr 1938 war Rosa in Themar und lebte mit Selma am Markt 8, da ihr Name in der Volkszählung der Themarer Juden vom 7. März aufgeführt ist.

Im Januar 1939 zog Samuel von Fulda nach Bad Nauheim, um im Israelitischen Männerheim“ zu wohnen. In den frühen 1900er Jahren, als der Kurort zu einem der begehrtesten Orte aufblühte, wurden in Bad Nauheim sowohl ein Männerheim als auch ein Frauenheim mit großem Tamtam eröffnet. Die Heime befanden sich in der Frankfurterstraße, einer der elegantesten Straßen der Stadt (Foto links). Bis 1939 waren sowohl das Männerheim als auch das Frauenheim zu einem der letzten Zufluchtsorte für ältere Juden geworden, und bald wurden sie auch zum Zufluchtsort für Juden, insbesondere für alleinstehende Juden, die sich nicht mehr von Nicht-Juden mieten konnten.

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1939-1942

Samuel Schloss, 1856-1939. Kredit: Sammlung Stern

Samuel Schloss, 1856-1939. Kredit: Sammlung Stern

In den Monaten vor Beginn des Zweiten Weltkriegs schmiedeten die Kinder und Enkelkinder von Samuel und Philippine Schloss Pläne, Deutschland und Europa zu verlassen. Minna und ihr Mann, Carl Katzenstein, besorgten sich Papiere und verließen im Februar 1939 das Land. Selmas Sohn Adalbert Stern und ihr Schwiegersohn Arthur Plaut (der Ehemann von Elly Bär) emigrierten ebenfalls Anfang 1939 nach England.

Bis Mai 1939 blieben Samuel Schloss, seine Töchter Selma und Rosa sowie Selmas Tochter und Enkelin in Deutschland. Mitte Mai 1939 kam Rosa Schloss nach Bad Nauheim, wo sie, da sie nicht allein leben durfte, in das Frauenheim zog. Selma blieb mit ihrer Tochter Elli Plaut und ihrer Enkelin Hanna Karola Plaut in Themar und schmiedete Pläne für die Auswanderung.

Samuel Schloss starb am 3. August 1939. Selma reiste von Themar aus, um seine Beerdigung in Frankfurt am Main auf dem „neuen“ jüdischen Friedhof in der Eckenheimer Landstraße 238 zu organisieren. Selma kehrte nach der Beerdigung nach Themar zurück, und es scheint wahrscheinlich, dass Rosa mit Selma ging, da ihr Name auf der Liste der „noch in Themar lebenden Juden vom 6. Oktober 1939“ steht.

Frankfurt cemetery
Der Grabstein von Samuel Schloss (1856-1939) auf dem Jüdischen Friedhof in Frankfurt: Eckenheimer Landstraße 238. Das Geburtsdatum auf dem Grab ist falsch, Samuel wurde 1856 und nicht 1836 geboren. Fehler wie dieser waren üblich. Bildnachweis: E. Böhrer 2009

Nach Kriegsbeginn im September 1939 verschärfte sich die Situation drastisch: Irgendwann Ende 1939 oder Anfang 1940 kehrte Rosa Schloss nach Bad Nauheim zurück, um erneut im Frauenheim zu wohnen, das nun offiziell als „Haus für Juden“ bezeichnet wurde. Im Frühjahr 1940 verließ Selma Schloss Bär Stern Themar zum letzten Mal. Sie machte sich mit ihrer Tochter Elli und ihrer Enkelin Hanna Karola auf den Weg nach Berlin, um für die Ausreise bereit zu sein, sobald sie ihre Ausreisepapiere erhielten. Nach eineinhalb Jahren des Wartens erhielten Elli und Hanna Karola, nicht aber Selma, die erforderlichen Papiere und verließen Europa im August 1941 über Lissabon. Fünf Monate später, am 25. Januar 1942, wurde Selma Schloss Bär Stern, 54, in Berlin aufgegriffen und nach Riga deportiert. Ein offizielles Sterbedatum ist nicht bekannt.

Mitte September 1942 wurde Rosa Schloss zusammen mit Juden aus Bad Nauheim und anderen Kleinstädten der Region nach Darmstadt deportiert. Hier wurden über zweitausend Juden vom 15. bis 30. September in der Justus-Liebig-Schule inhaftiert. Die deutschen Behörden betrieben die Schule als „Durchgangslager“, und es gab keine Möglichkeit zur Flucht. Die Deportationen begannen am 27. September 1942; Rosa wurde am 30. September 1942 mit 883 anderen Juden „nach Osten“ deportiert; das genaue Ziel des Transports geht aus den Akten nicht hervor, aber es heißt, dass es Treblinka war. Ein offizielles Sterbedatum ist nicht verzeichnet.

In den USA und in England, wohin Selmas Sohn, Tochter, Schwiegersohn sowie Enkelin und Sohn emigrieren konnten, wuchsen die Familien. Beide Kinder von Selma sind inzwischen verstorben: ihr Sohn Adalbert 1992 und ihre Tochter Elli im Jahr 2009. Ihre Kinder und viele Enkelkinder leben weiter.

Siehe auch: Die Familie Rosa Reis Schloss aus Obbach

Quellen
Wir danken Elisabeth Böhrer aus Sondheim vor der Rhön für ihre großzügige Unterstützung bei der Darstellung der Geschichte der Familien Reis und Schloss.

  • Alemannia-Judaice, „Das Israelitische Frauen- und das Israelitische Männerheim
  • Alemannia-Judaica, Oberwaldbehrungen (Stadt Ostheim v.d. Rhön, Landkreis Rhön-Grabfeld) Jüdische Geschichte / Synagoge
  • Alemannia-Judaica, Obbach (Gemeinde Euerbach, Kreis Schweinfurt) Jüdische Geschichte / Synagoge
  • Alemannia-Judaica, Bad Nauheim (Wetteraukreis) Jüdische Geschichte/Synagoge
  • Ancestry.com Databases.
  • Deutsches Bundesarchiv. Gedenkbuch.
  • Jüdisches Museum, Frankfurt am Main.
  • Stadtarchiv Ostheim
  • Stadtarchiv Themar
  • Nothnagel, Hans, hrsg., Juden in Südthüringen geschützt und gejagt:eine Sammlung jüdischer Lokalchroniken in sechs Bänden, 1995.
  • Wolf, Siegfried et al. Juden in Thüringen 1933-1945: biographische Daten, 2000-2002.