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MITTWOCH, 13. NOVEMBER 2024
Seit Dienstag erinnern neun Stolpersteine an das Schicksal der jüdischen Familie Marcus. Zur Verlegung kamen auch Nachfahren aus Uruguay und den USA nach Halle.
von Walter Zöller
HALLE/MZ. Ana Caviglia spricht eindringlich. Sie steht vor dem Haus Mozartstraße 24 im Giebichensteinviertel. Ihre Muttersprache ist Spanisch, am Dienstagmorgen teilt sie sich rund 70 Zuhörern in Englisch mit. „Ich bin die Tochter des Mädchens, das in diesem Haus geboren und aufgewachsen ist“, gibt ein Übersetzer ihre Worte wieder. „Die Bewohner wurden 1938 gezwungen, das Land zu verlassen, sie flüchteten nach Uruguay.“
Die Uruguayerin ist nicht zum ersten Mal in Halle, 2009 kam sie mit ihrer Mutter in die Stadt. Sie klingelten in der Mozartstraße 24 an der Tür der Praxis, in der damals der Mediziner Michael Büdtke praktizierte. Sie erzählten ihre Lebensgeschichte und baten, sich die Räume ansehen zu dürfen. Der Arzt stimmte ohne zu zögern zu. „Können Sie sich das vorstellen, meine Mutter trat nach 70 Jahren in dieses Haus ein?“, sagt Ana Caviglia. „Wir saßen im Wartezimmer der Praxis. Das war früher das Wohnzimmer des Hauses, wo sich die Erwachsenen aufhalten konnten.“
„Es gab viel Angst, ein Trauma.“ Ana Caviglia Hinterbliebene
In den Räumen praktiziert jetzt die Ärztin Felicia Baum, auch sie öffnet am Dienstag bereitwillig die Türen für Ana Caviglia — und rund 20 weitere Personen, die ebenfalls aus Uruguay und den USA angereist sind. Sie alle sind Nachfahren der jüdischen Familie Marcus, die von den Nazis aus Halle vertrieben wurde. Seit Dienstag erinnern nicht nur neun Stolpersteine an das Schicksal der Familienmitglieder, sondern auch detaillierte Biografien, für die Anne Kupke-Neidhardt, Geschäftsführerin des „Zeitgeschichte(n) — Vereines für erlebte Geschichte“ viele Gespräche mit den Nachfahren geführt hat.
Siegfried Marcus hatte schon Jahre der Schikane und Bedrohung ertragen, als sich die Lage für den Anwalt im Spätsommer 1938 endgültig zuspitzte. Beim Verhör im Polizeigebäude am Hallmarkt schützte ihn auch das Eiserne Kreuz nicht, mit dem er für seine Dienste als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet worden war. Polizisten schlugen es ihm aus der Hand. Siegfried Marcus wurde zur Last gelegt, er habe beim Skat in einer Kneipe einem Gerichtsvollzieher — also einem Justizbeamten — eine Zigarre angeboten. Das sei ein Bestechungsversuch, so der absurde Vorwurf.
Marcus wurde eingesperrt. Nach einigen Tagen kam er durch die Intervention eines Freundes aus gemeinsamer Militärzeit — der in der NSDAP war und offenbar über einigen Einfluss verfügte — wieder frei. Der Freund riet ihm, sofort die Koffer zupacken und zu fliehen, denn die nächste Inhaftierung stehe unmittelbar bevor. Ehefrau Emma begleitete Siegfried Marcus nach Rotterdam, wo er an Bord eines Schiffes nach New York ging. Sie selbst kehrte zurück nach Halle zu den drei Söhnen. Die Familie kam in den USA erst 1948 wieder zusammen und baute sich dort eine neue Existenz auf.
Siegfried Marcus hatte zwei Brüder, auch ihnen blieb nur die Flucht. Erich Marcus wurde im April 1938 ins KZ Buchenwald gebracht. Seine Verhaftung stand im Zusammenhang mit einer großangelegten Aktion vor allem gegen Juden, mit der die Nazis angeblich asoziales Verhalten und Kriminalität senken wollten. Tatsächlich ging es vor allem darum, Juden durch massive Bedrohung zur Auswanderung zu drängen und deren Vermögen zu rauben. Erich Marcus kam gegen die Zusicherung frei, Deutschland umgehend zu verlassen. Er war gezwungen, seine Firma „Erich Marcus, Maschinen für Land und Hauswirtschaft“ aufzulösen, ihm wurde eine sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ in Höhe von 20.000 Reichsmark abgepresst. Auch er emigrierte in die USA.
Wie seine beiden Geschwister waren auch der älteste Bruder Paul und seine Frau vor 1933 angesehene Bürger in Halle. Im Jahr 1923 öffnete er als Allgemeinmediziner in der Großen Ulrichstraße eine Praxis, Paul Marcus war Mitglied im Verband nationaldeutscher Juden und im jüdischen Frontkämpferbund. 1938 aber durften jüdische Ärzte – ihrer Approbation beraubt – wenn überhaupt nur noch als „Krankenbehandler“ jüdische Kranke medizinisch versorgen. Die Lage wurde immer bedrohlicher. Paul und Emma Marcus flohen, um einen Großteil ihres Besitzes gebracht, nach Uruguay. Sie begannen, sich eine neue Existenz aufzubauen. Wegen der gesellschaftliche Stimmung in Uruguay traten sie zum katholischen Glauben über. Die Familie sprach mit ihren Nachkommen weder über die Vergangenheit in Europa noch über ihre jüdische Herkunft. „Es gab viel Angst, ein Trauma“, sagt Ana Caviglia. Erst die Enkelkinder begannen, die Familiengeschichte so zu erforschen, wie sie heute bekannt ist.
Dass das Leben der Brüder Marcus und ihrer Angehörigen in Halle nicht in Vergessenheit gerät, ist dem Künstler Gunter Demnig und dem „Zeit-Geschichte (n) – Verein“ zu verdanken. Demnig hat 1992 das Projekt Stolpersteine ins Leben gerufen, seitdem wird überall in Deutschland mit kleinen Tafeln an Menschen erinnerte, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben und ermordet wurden. Der „Zeit-Geschichte (n) – Verein“ betreut seit 2003 das Projekt in Halle.
Bis Dienstag mahnten 289 Stolpersteine in der Stadt, nun sind neun weitere hinzugekommen. In der Mozartstraße 24 wohnte das Ehepaar Paul und Hertha Marcus sowie Tochter Marion Beate; in der Kirchnerstraße 17 in der Nähe des Hauptbahnhofs Bruder Erich Marcus sowie das Ehepaar Siegfried und Hertha Marcus mit ihren drei Kindern. Die Nachfahren aus den USA und Uruguay sind auf eigene Initiative und eigene Kosten nach Deutschland gekommen. Vor ihrem Besuch in Halle waren einige im thüringischen Themar, von dort stammt Emma Marcus. Der „Zeitgeschichten-Verein“ organisierte den Aufenthalt in Halle. Dazu gehörte auch ein Gespräch, das Schüler des Hans-Dietrich-Genscher- Gymnasiums mit den Nachfahren der Familie Marcus führten.
Welches Leid von den Nazis verfolgten Menschen widerfuhr, wird auch am Beispiel des ältesten Sohnes von Siegfried und Emma Marcus deutlich. Er musste als „Halbjude“ Zwangsarbeit in der Normandie leisten, konnte fliehen, schlug sich nach Halle durch und wurde hier denunziert. Der 17-Jähriger kam in ein Arbeitserziehungslager im thüringischen Sitzendorf. Über die schlimme Zeit hat er nie mit seiner Familie gesprochen.
Neun Patenschaften
Mozartstraße 24: Die Patenschaften für die Stolpersteine, die an Paul Marcus und Hertha Marcus sowie deren Tochter Marion Beate Marcus erinnern, haben das Giebichenstein-Gymnasium, Familie Cyranka und die Hausärztin Felicia Baum übernommen.
Kirchnerstraße 17: Die Patenschaften für die Stolpersteine, die an Siegfried Marcus, Erich Marcus, Emma Marcus und die Kinder Erich, Dieter und Peter erinnern, übernehmen die Schule des Lebens „Helen Keller“, die August Hermann Francke-Schule und das Hans-Dietrich Genscher-Gymnasium sowie Marcus Riemer und Georg Prick.
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Anne Kupke,,Mozartstraße 24 — Paul, Hertha, u.. Marion Marcus“
Anne Kupke,,,Krechnertrasse 17 — Erich, Siegfried u. Emma Marcus u. Erich, Dieter u. Peter Marcus“