Sie sind zurückgekehrt zu ihren Wurzeln –Mitglieder der jüdischen FamilieGassenheimer. In Themar haben sich einige,die heute über die ganze Welt verstreut sind, zum ersten Mal persönlich kennengelernt.
Von Wolfgang Swietek
THEMAR. „Was ich hier auf dieser Reise nach Themar und Hildburghausen sowie in einige andere Orte der Region gesehen und erlebt habe, das hat mich sehr berührt“, bekennt Peter Gassenheimer. „Vieles davon wusste ich gar nicht,habe erst hier vor Ort davon erfahren. Fast täglich kamen neue Überraschungen für mich hinzu. Ob auf dem jüdischen Friedhof in Marisfeld, wo wir nach Grabstätten von zu Tode gekommenen Familienmitgliedern gesucht haben, oder in Bibra,wo wohl der Ursprung unserer Familie liegt, in Bauerbach oder in Berkach. Ich werde sicher eine ganze Zeit brauchen, um all das zu verarbeiten. MeinenVerwandten wird dies sicher nicht anders gehen. Einige von ihnen haben sich ja hier in Themar zum ersten Mal persönlich kennengelernt, nachdem sie erst seit Kurzem per E-Mail Kontakt miteinander hatten.“
Dass dieser Kontakt überhaupt zustande kam, ist einer Frau zu verdanken – der Professorin Sharon Meen aus Kanada. Sie erforscht seit vielen Jahren das Leben und die tragischenGeschichten von jüdischen Familien, unter anderem aus Themar. Dass ihnen gedacht wird, unter anderem durch die Verlegung von Stolpersteinen, geht ebenso auf ihre Forschungenzurück wie ihre vielenVeröffentlichungen im Internet. Dort hat auch Peter Gassenheimer seinen Namen entdeckt –und den von anderen Menschen, die ebenfalls diesen Namen tragen. Den Namen gebe es so selten, dass er zu dem Schluss kam: „Wer Gassenheimer heißt,derist sicher miteinander verwandt.“ Und so suchte er Kontakt zu den anderen Gassenheimern. Bisher jedoch fast nur per Mail, ohne persönliche Begegnungen.
Von London nach Themar
Bereits im Jahr 1992 hatte sich Peter Gassenheimer entschlossen, von seinem Wohnort London nach Themar zu reisen. Er wollte mehr erfahren von seinem Großvater Ernst Gassenheimer, der in Themar eine bekannte Landmaschinenfabrik betrieben hatte. Auch in Hildburghausen hatte es eine Fabrik gleichen Namens und mit etwa gleicher Produktion gegeben, betrieben von Ernst Gassenheimers Bruder. Obwohl sich Peter Gassenheimer für seinen ersten Besuch in Themar nicht angemeldet hatte, wurde er freundlich aufgenommen, konnte sogar das ehemalige Wohnhaus seines Großvaters besichtigen.
Der derzeitige Besuch kam im Gegensatz zu seiner Reise von 1992 nicht spontan zustande, erwurde organisiert von den Mitgliedern des Vereins „Themar trifft Europa“, die einumfangreiches Programmzusammengestellthattenund die fünf Familienmitglieder der Gassenheimers, die der Einladung gefolgt waren, auch liebevoll umsorgten und betreuten. In Bibra waren sie, wo die ersten Aufzeichnungen der Familie Gassenheimer im Jahr 1658 datiert sind. Wer genau das jeweils war, ist schwierig nachzuvollziehen – denn zu jener Zeit hatten jüdische Bürger nurVornamen, erst abdemJahr 1811wurden sie in den Akten auch mit Nachnamen benannt. In Marisfeld besuchten sie den jüdischen Friedhof, auf der Suche nachGrabstellen ihrer zu Tode gekommenen Familienangehörigen.
Natürlich haben sie auch die noch erhaltenen Landwirtschaftsmaschinen aus den beiden Firmen von Hildburghausen und Themar besichtigt, so im Hennebergischen Museum Kloster Veßra. Andere Stationen ihrer Besuchsreise waren Bauerbach und Berkach, einem Ort mit einstmals überwiegend jüdischer Bevölkerung. Im Jahr 1990 war dort die Mikwe restauriert worden. Dort konnte sich jeder der fünf Gassenheimers – zum Teil ist es die fünfte Generation der einst hier ansässigen Familie –ein anschauliches Bild machen, wie jüdische Familien vor einhundert Jahren hier gelebt haben.
Ein besonderes Erlebnis für die Gäste war der Abend im Amtshaus von Themar. „Ob sich die Einwohner von Themar überhaupt für unsere Familiengeschichte interessieren?“, war Peter Gassenheimer unsicher. Doch der Saal hatte sich zu seiner Überraschung schnell gefüllt. Unsicher war zunächst auch Joachim Hanf, der kurzfristig die Gesprächsleitung des Abends übernommen hatte. Oderübernehmenmusste – denn Sharon Meen, die die Geschichte der Gassenheimers wohl besser kennt als so manches Familienmitglied selbst, war zwar aus Kanada angereist, lag aber in diesen Tagen krank im Bett. Was an diesem Abend mehrfach bedauert wurde. So ist ihr das Erlebnis versagt geblieben mitzuerleben, was wissenschaftliche Arbeit im praktischen Leben bewirken kann. Anders gesagt, dass ihre Arbeit nicht allein Eingang in die Literatur über jene Zeit findet, sondern wie Menschen dadurch wieder zusammenfinden, die inzwischen über die ganze Welt verstreut leben. Und nun – erst dank der Arbeit von Sharon Meen – vieles über ihre Vorfahren erfahren. Wer überlebt hat, weil ihm die Flucht aus Nazideutschland gelungen ist, oder wer den Weg in eines der Vernichtungslager nehmen musste, von wo er nicht wieder zurückgekehrtist.„Wirhabenerst durch SharonMeen erfahren, wer aus unserer Familie ermordet wordenist, dass zumBeispiel auchdie sechsjährigen Zwillinge dabei waren“, sagt Nonie Akman. Die Vorfahren, egal wohin sie auswandern mussten, ob nach Spanien, Südafrika oder in die USA, seien immer Deutsche geblieben, versicherten die Gassenheimers. „Sharon hat unsere Familie wieder zusammengebracht“, sagt Barbara Mason, „ihr habenwir es zudanken, dasswirunspersönlich kennenlernen konnten und nun wieder Kontakt zueinander haben.“
Kennengelernt also in Themar. So wird ihnen dieses kleine Thüringer Städtchen in besonderer Erinnerung bleiben. Eigentlich steht dies einer Stadt doch gut zu Gesicht. Doch die Stadt habe sich, so Joachim Hanf, bei der Betreuung der Gäste sehr zurückgehalten, um es vorsichtig auszudrücken. Die guten Gastgeber waren allein die Mitglieder desVereins „Themartrifft Europa“. Gut, dass die Stadt einen solch rührigen Verein hat.