Quelle: Stadtarchiv Themar, Ordner 109
Am 18. März 1941 zahlte Lothar Israel Guthmann, geb. 1898, die Gebühr von 20 Pfg, um seine Ankunft in Themar zu registrieren; sechs Monate später, am 12. September 1941, zahlte Guthmann erneut eine Gebühr, um seine Abreise zu registrieren.
Die Eintragung war verblüffend, denn der Name Guthmann – mit „th“ geschrieben – sagte uns nichts. „Wer war Lothar Guthmann?“, fragten wir. „Und warum war er im Sommer 1941 in Themar?“
Der erste Gedanke war, dass das Standesamt von Themar vielleicht „Guttmann“ falsch geschrieben hatte, ein Name, der durch die Familien Wertheimer und Frankenberg mit Themar verbunden war. Vielleicht hatte eine familiäre Verbindung Lothar in die Stadt gebracht.
Eine schnelle Suche im Gedenkbuch des Deutschen Bundesarchivs ergab jedoch einen Lothar Guthmann, der von Würzburg nach Krasnystaw im besetzten Polen deportiert worden war. Außerdem gab es Zeitungsartikel über die 2008 verlegten Stolpersteine für Lothar Guthmann und seine Schwester Helene in der Stadt Attendorn, ihrem Geburtsort.(1) Und dann fanden wir den ausführlichen und reich bebilderten Artikel von Brigitte Puth, Sie haben auch Sara Else, Helene, und Lothar geheißen: Auf den Spuren der Familie Guthmann, erschienen 2011.(2) Frau Puth war die Tochter von Franz Henze, dem Buchhalter von Metzgermeister Albert Guthmann, Lothars Vater; sie war maßgeblich an der Verlegung der Stolpersteine für Lothar und Helene beteiligt.
After the laying of the Stolpersteine in 2008, Puth continued her research into the Guthmann family story. Summarized — very briefly — it is as follows: in 1879, Albert Guthmann came to Attendorn from Gandersheim; by 1891, he had set himself up as a master butcher and, in the same year, he married Karolina/Lina Fränkel, b. 1866 in Biblis. Albert and Lina had four children: the first, Ernestine Sophie, died as an baby. The second, Sara Else, married Max Neugarten with whom she had two children. The Neugartens were able to escape before WWII began. Else Sara and Max Neugarten left Germany in August 1939 for Columbia to join son Kurt who had emigrated before Kristallnacht; Margot left on 5 May 1939 for England and a year later joined her family in Cali.
Alberts und Linas jüngste Kinder, Helene und Lothar, wurden beide in Europa gefangen und ermordet. Helene hatte 1923 den in Sarnow geborenen Abraham Teitel geheiratet; sie hatten sich in Herne niedergelassen und drei Kinder bekommen, von denen das letzte am 11. Oktober 1938 geboren wurde. Am 29. Oktober 1938 wurden Abraham und der 14-jährige Wolf-Werner im Rahmen der „Polenaktion„, der Deportation von etwa 17.000 in Deutschland lebenden polnischen Juden an die deutsch-polnische Grenze, zusammengetrieben. Das Naziregime betrachtete Abrahams Staatsangehörigkeit als polnisch und damit auch die seiner Familie. Am 1. Juli 1939 durfte Abraham nach Hause zurückkehren, um seine Familie für die endgültige Ausreise zu organisieren. Am 30. Juli 1939 verließen Abraham, Helene, Waltraud und Isidor Teitel Deutschland für immer (3); das Datum und der Ort ihrer Ermordung sind nicht bekannt.
Wolf-Werner Teitel gelang die Flucht: Am 20. April 1939 verließ Werner mit Unterstützung des Polnisch-Jüdischen Hilfsfonds Polen mit einem Kindertransport und reiste über Gdynia zunächst nach England und dann weiter nach Australien.(4) Im Fotoarchiv des USHMM findet sich dieses Foto der jungen Männer: „Gruppenbild der deutsch-jüdischen Flüchtlingsjugend auf dem Deck der SS Oronsay auf dem Weg von England nach Australien“. Hier heiratete er Betty Aloni, geb. 1924 in Lozma Polen, gründete eine Familie mit drei Kindern und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2006. Im Jahr 2015 besuchte eine der Töchter von Wolf-Werner Teitel Attendorn. (5)
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Und so kehren wir zu den beiden Fragen zurück, die diese Suche ausgelöst haben: Wer war Lothar Guthmann? Warum war er im Sommer 1941 in Themar?
Dank Brigitte Puth kennen wir nun die Antwort auf die erste Frage: Lothar Josef Guthmann war ein deutscher Jude, dessen familiäre Wurzeln bis ins Jahr 1700 zurückreichten. Er wurde 1898 geboren und war das jüngste von vier Kindern von Albert und Lina Guthmann. Er wurde in Attendorn in Nordrhein/Westfalen geboren, einer Stadt mit rund 3.000 Einwohnern im Jahr 1900, von denen etwa 46 jüdisch waren. Lothar übte den gleichen Beruf aus wie sein Vater und sein Großvater vor ihm, nämlich Schlachtermeister. Am 23. Dezember 1928 heiratete er Rosa Friedmann aus Höchheim – siehe B. Puth, S. 19, für ein Foto der Hochzeit – und zog in diese Stadt. Lothar und Rosa hatten keine Kinder und lebten mit Rosas Mutter, Bruder Gustav und Schwester Hedwig zusammen.
Ab Mitte der 1930er Jahre wurden Lothar Guthmann und seine Familie von den Nazis unerbittlich verfolgt. Am 10. November 1938 gerieten Lothar und zwei Schwager – Gustav Friedmann und Max Neugarten – in die Falle des Reichspogroms, das als „Kristallnacht“ bekannt wurde; Lothar und Gustav wurden nach Buchenwald, Max nach Dachau geschickt. Obwohl wir wissen, dass Lothar wahrscheinlich, wie alle Kristallnacht-Häftlinge, freigelassen wurde, um alle Möglichkeiten zur Ausreise aus Deutschland zu nutzen, sind bis heute keine Spuren von Lothars Auswanderungsbemühungen gefunden worden. [Wie bereits erwähnt, konnte die Familie von Lothars ältester Schwester, Sara Else, ausreisen.]
Im Sommer 1941 war Lothar also das einzige Mitglied seiner Familie, das noch in Deutschland lebte: Sein Vater Albert war am 12. Mai 1941 in Köln gestorben, während Lothar in Themar war. Er hätte wenig Hoffnung auf eine Auswanderung gehabt: Als er im März 1941 in Themar ankam, war es für Juden zwar noch möglich, freiwillig auszuwandern, doch im September 1941 war dies nicht mehr möglich. Die Entscheidung Hitlers, Juden zur Auswanderung in den „Osten“ zu zwingen, fiel am 14. September 1941, zwei Tage nach Lothars Abreise aus Themar.
Lothar kehrte wahrscheinlich im September 1941 nach Höchheim zurück; sieben Monate später, am 25. April 1942, wurden Lothar und seine Frau Rosa – ihre Namen werden ohne das „h“ in „Guthmann“ geschrieben – sowie Rosas Bruder Gustav Friedmann von Würzburg aus nach Osten in das Gebiet Lublin im besetzten Polen deportiert. (Hedwig Friedmann wurde im September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo ihr Leben 1944 endete. Das Schicksal von Berta Friedmann ist nicht bekannt). Übersetzt mit
Auf der Website von Yad Vashem findet sich folgender Bericht über den „25. April 1942 – Die dritte Deportation aus Würzburg“:
„Die Würzburger Gestapo forderte etwa 800 Juden aus 19 verschiedenen Unterbezirken und drei verschiedenen Landkreisen (insgesamt 80 verschiedene Gemeinden) auf, sich im Platz’schen-Garten zum Zwecke der „Evakuierung“ einzufinden. Am 25. April wurden auch 78 Juden aus Würzburg aufgefordert, sich zu melden. Gegen 15:00 Uhr verließ der Deportationszug mit 852 Juden Würzburg. Der Zug hielt in Bamberg, um 103 Juden aus der Umgebung einzusammeln, darunter auch Juden aus Nürnberg und Fürth, die mit dem vorherigen Transport am 23. März nicht deportiert worden waren. Am 28. April erreichten die Deportierten Krasnystaw im Bezirk Lublin in Polen.
Vor dem Einsteigen in die Transporte wurden die Juden gründlich nach Wertgegenständen durchsucht, die sie an ihrer Person oder in ihrem Gepäck versteckt hatten, darunter Waffen, Devisen, Geld und Schmuck. Alle Gegenstände wurden sorgfältig notiert. Nach Unterlagen der deutschen Polizei wurde bei den in Würzburg konzentrierten Juden ein Gesamtbetrag von 12.885 RM (Reichsmark) beschlagnahmt.
Nachdem die Deportierten Krasnystaw erreicht hatten, wurden sie zu Fuß nach Krasniczin marschiert. Die dortigen Juden wurden noch am selben Tag ermordet, an dem die Würzburger Juden eintrafen. Es scheint, dass die überlebenden Deportierten schließlich am 6. Juli 1942 nach Sobibor deportiert wurden.
Diese Deportation von 852 Würzburger Juden wurde von deutschen Polizisten dokumentiert, und die Fotos wurden in einem Album für Michael Völkl, den mit der Durchführung der Deportation beauftragten Würzburger Gestapobeamten, gesammelt.“
Auf deutsch sehen Sie Yad Vashem, Zugfahrten in den Untergang: Transport Zug Da 49 von Würzburg, Mainfranken, Bayern, Deutsches Reich nach Krasnystaw, Krasnystaw, Lublin, Polen am 25/04/1942.
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Unsere zweite Frage – warum war Lothar Gutmann im Frühjahr und Sommer 1941 in Themar? – wird wohl nie beantwortet werden.
War Lothar freiwillig in Themar? Oder wurde er gezwungen, in Themar oder irgendwo in der Nähe 6 Monate lang unfreiwillige Arbeit zu leisten?
Vielleicht liegt die Antwort in noch ungelesenen Akten im Archiv in Themar oder im Archiv in Höchheim. Oder vielleicht kann jemand, der diese Seite liest, etwas dazu sagen. Wenn Sie etwas wissen oder Korrekturen oder Ergänzungen haben, wenden Sie sich bitte an Sharon Meen @ [email protected]. Wir freuen uns auf Ihren Beitrag.
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Wir sind Frau Puth zu großem Dank verpflichtet, deren Nachforschungen es uns ermöglichten, Lothar Guthmann im Kontext seiner größeren Familie zu verorten.
Für einen Überblick über die Familien, denen Lothar angehörte, siehe Nachkommenliste.
Anmerkungen:
1. Hubertus Heule,,Zwei weitere Stolpersteine wider das Vergessen,“ derweilen.de 19.08.2008.]
2. Brigitte Puth, ,,Sie haben auch Sara Else, Helene, und Lothar geheißen: Auf den Spuren der Familie Guthmann,“ Attendorn — Gestern und Heute, Nr. 33, S. 3-22.
3. Puth’s research corrects the data published in the Bundesarchiv Gedenkbuch for the Teitel/Teytel family. See for example, entry for Helene Teytel.
4. Ancestry.com. UK, Outward Passenger Lists, 1890-1960 (database on-line). National Archives of Australia; Queen Victoria Terrace, Parkes ACT 2600. Inward passenger manifests for ships and aircraft arriving at Fremantle, Perth Airport and Western Australian outports from 1897-1963; Series Number: K 269; Reel Number: 88. See Jennifer Craig-Norton, „Polish Kinder and the Struggle for Identity,“in Hammel, Andrea; Lewkowicz, Bea, Kindertransport to Britain 1938/39 : New Perspectives, 2012, pp. 29-44.
5. Heike Schulte-Belle,,Australierin zu Gast in Artendorn,“ WOLL, 05 Aug 2015.]
Zum Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt: Thementafel: ,Die Verfolgung der Juden
Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen – Reg.bez. Arnsberg, S. 459, cited in Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde: Attendorn.