Vor fünf Jahren wurde ich vom Vancouver Holocaust Bildungszentrum gebeten eine Reihe von Briefen auf Deutsch zu lesen und sie auf Englisch zusammenzufassen. Diese Briefe wurden von Andrew Rosengarten, dem Sohn von Manfred Rosengarten, dem Verfasser der Briefe, an das Vancouver Holocaust Bildungszentrum Archiv übergeben. Das Besondere an der Briefsammlung war, dass es sich dabei um einen vier Jahre langen Briefverkehr zwischen Manfred Rosengarten, einem Juden, der als Teenager aus Themar vertrieben wurde, und seinen nicht-jüdischen Freunden, die er zum letzten Mal im Jahr 1936 gesehen hatte, handelte. Die Korrespondenz begann im Jahr 1983 und ist einem Zufall zu verdanken: eine Bekannte von Manfred, der Themar besuchte — die Stadt war zu diesem Zeitpunkt hinter dem Eisernen Vorhang — sollte auf Manfreds Bitte hin, ein Foto von dessen Geburtsstadt machen. Als sie dieser Bitte nachging, traf sie auf einen Mann namens Karl Saam, der sich an Manfred erinnerte und diesen durch die Bekannte bat ihm zu schreiben. Manfred schrieb und bat in seinem Brief wiederum seine alten Schulfreunde darum, ihm zu schreiben, wenn sie jeweils ihre Erfahrungen und Gefühle nach dem Zweiten Weltkrieg austauschen wollten. Daraufhin kam es zu einem regen Briefwechsel.
Auf Manfreds Beerdigung im Jahr 1987 sagte der Rabbiner, es habe eine „Lawine“ an Briefen gegeben, die den Ozean überquerte. Manfred schrieb an seine Freunde, dass er seine Wut begraben hätte, und dass er viel lieber auf ein gegenseitiges Verständnis hinarbeiten wollte, bevor es zu spät wäre. Er erzählte in seinen Briefen von seinem Leben, nachdem er aus Themar verstoßen wurde, und bekam von seinen Freunden im Gegenzug Berichte über ihre Kriegserfahrungen. Manche seiner alten Freunde nutzten den Briefwechsel dafür ihre Gefühle zu verarbeiten und schrieben, wie es für sie war als Deutsche in Nazideutschland gelebt zu haben. Manfred konnte sich dank seinem hervorragenden Gedächtnis noch genau an alle Orte und Ereignisse in der Stadt erinnern, und zeichnete eine detailgetreue Karte von Themar, wie die Stadt im Jahr 1936 aussah. Es ist faszinierend, wie präzise diese Karte ist.
Nach Manfreds Tod lagen die Briefe zwanzig Jahre lang in einer Kiste, bis ich sie im Jahr 2007 las und übersetzte. Dabei war ich so fasziniert von den Geschichten mit den zahlreichen Details und dem beiliegenden Fotoalbum, dass ich beschloss selbst Themar zu besuchen. Bevor ich losfuhr, fand ich außerdem heraus, dass zwei der Briefautoren noch lebten und dass die Kinder von den anderen Briefpartnern bereit waren mit mir über ihre Erinnerungen zu sprechen. Auf meiner Reise habe ich dann auch andere Menschen in Themar getroffen, die mir über die Stadt erzählten, als es dort noch eine jüdische Gemeinde und jüdisches Leben gab.
So begann also eine gemeinsame Entdeckungsreise. Was mit einer Kiste mit Briefen von einem Juden aus Themar anfing, wurde zu der Geschichte einer kleinen, aber dennoch wichtigen deutsch-jüdischen Gemeinde in den Jahren 1865 bis Ende der 30er Jahre. Das Internet war natürlich eine sehr große Hilfe bei diesem Projekt, da es dadurch viel einfacher wurde, die Nachkommen der 30 jüdischen Familien zu kontaktieren, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Themar gelebt hatten. Und sie antworteten. Ich muss dazu sagen, dass ohne die Mitwirkung von den Nachkommen der Juden aus Themar diese Website niemals hätte zustande kommen können.
Diese Reise in die Vergangenheit hat auch viele andere Menschen zusammengebracht. Menschen, die heute in Themar leben, haben ihre Erinnerungen, Dokumente, Fotos und Postkarten beigesteuert; meine Freunde aus Deutschland, die ich noch aus meiner Studienzeit kannte, haben mir und anderen Forschern unendlich viel Zeit geschenkt. Im Endeffekt sind es Menschen aus ganz Deutschland, die bereitwillig versuchen die Rätsel, die die Vergangenheit aufwirft, zu lösen. Auch die Studenten an der Uni, die ich in Geschichte unterrichte, tragen mit ihren Talenten und ihrem Wissen zu dieser Website bei.
Wir alle sind durch diese „digitale Brücke“, zu der die Website geworden ist, verbunden und hoffen, dass die Verbindung zur Vergangenheit gleichzeitig eine Brücke für die Gegenwart und die Zukunft ist. Bitte schreiben Sie uns. Wir freuen uns sehr über Ihre Fragen, Anregungen und Kommentare.
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