Themar – „Stolpersteine liegen schon einige vor den Häusern in Themar. Dort, wo einst jüdische Mitbürger wohnten. „Es sollen keine Grabsteine sein“, sagt Dr. Sharon Meen. „Doch manche Nachfahren in der zweiten oder dritten Generation empfinden es wohl so. Sie haben zu mir gesagt: ‚Endlich kann ich zur Ruhe kommen, weil ich weiß, dass meine Vorfahren einen letzten Ort gefunden haben. Bis jetzt wusste ich nur, wo sie umgebracht worden sind.‘ Doch für uns sollten die Stolpersteine ein Zeichen sein, dass wir dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte nie vergessen werden.“
Fast entschuldigend klingen die Worte Sharon Meens: „Ich bin keine Jüdin, und auch keine Deutsche. Vielleicht wundern Sie sich, warum gerade ich – eine Kanadierin – mich so intensiv mit der Geschichte der deutschen Juden beschäftige.“ Die Professorin der Universität British Columbia, die als freiwillige Forscherin am Vancouver Holocoust Edudation Centre tätig ist, hat dafür eine einfache Erklärung. Im Jahr 2007 sei ein junger Mann zu ihr gekommen mit einem Karton voller Briefe seiner Vorfahren aus Deutschland, die er nicht lesen konnte. Und so habe sie ihm beim Übersetzen geholfen. Was sie da zu lesen bekam über den Nationalsozialismus, über die Deportationen in Konzentrationslager, über die Zeit des Holocaust, habe sie betroffen gemacht. So sehr, dass sie sich immer intensiver damit beschäftigte, Nachforschungen betrieb, bis bei ihr der Wunsch entstand: „Ich muss an den Ort des Geschehens, ich muss wenigstens einmal in Themar gewesen sein. Vielleicht erfahre ich dort noch mehr.“
Im Jahr 2008 verwirklichte sie ihren Wunsch. Und in der Zwischenzeit ist die Ehrenbürgerin der Stadt mehr als nur das einmal in Themar gewesen. Beinahe jedes Jahr kommt sie ein- und gar mehrmals hierher, trifft Menschen, die das gleiche Anliegen haben – mehr von den ehemaligen jüdischen Mitbürgern zu erfahren. Bürgermeister Hubert Böse gehört dazu, und Barbara Morgenroth und viele andere.
Sharon Meen ließ sich auch nicht lange bitten, als Christine Hartung vom Bündnis für Demokratie und Weltoffenheit Kloster Veßra sie gebeten hat, einmal eine Führung zu den bisher verlegten Stolpersteinen und den betroffenen Familien zu machen. Gefragt, getan. Am Samstagnachmittag ist es dann soweit. Mehr als 30 Interessierte sind der Einladung zum Stadtrundgang der besonderen Art gefolgt. Mitglieder aus dem „Verein Themar trifft Europa“, die schon von Anfang an dabei sind, aber auch Besucher von außerhalb, die erstmals mit dem Thema Stolpersteine konfrontiert werden.
Viel hatte Sharon Meen über die jüdischen Mitbürger von Themar zu erzählen. Hier habe es nicht wie in vielen anderen Orten ein Ghetto für sie gegeben. Sie wohnten überall in der Stadt verteilt, waren im besten Sinne integriert, betrieben eigene Geschäfte oder Handwerksbetriebe, waren von ihren deutschen Mitbürgern anerkannt und geschätzt. Bis die Nationalsozialisten an die Macht kamen … Man hat sie diffamiert, verfolgt und ermordet. „Sie waren alles deutsche Juden. Von der Identität her deutsch, vom Glauben her jüdisch“, sagt Sharon Meen. Sie haben im ersten Weltkrieg als Soldaten „für das Vaterland“ gekämpft, an der Seite ihrer deutschen Mitbürger. Erst nach 1933 wurden sie als Menschen zweiter Klasse behandelt.
„Hier, wo wir jetzt stehen“, ergänzt Barbara Morgenroth, …, „war ein jüdisches Kaufhaus. Ein Spruchband quer über der Straße forderte die Themarer auf: ‚Kauft nicht bei Juden!‘ Gegenüber, im Gasthaus Zum Grünen Baum, saßen Männer, die durch das Fenster beobachteten, wer dennoch einkaufen ging, und haben diese dann verraten.“
Mittlerweile ist es gegen 15 Uhr. Gut eine Stunde ist vergangen. Und Sharon Meen nimmt sich Zeit, von den fünf Familien zu erzählen, deren Leben sie besonders erforscht hat. Worauf sie besonders stolz ist? Sie hat dadurch schon mehrfach die Nachfahren, die heute auf der ganzen Welt verstreut sind – von den USA bis Kanada und Australien bis nach Südamerika und Israel -, wieder zusammengebracht. Durch Meen und deren Forschungen haben jene eben diesen Ort aufgesucht – vor allem zu den Treffen -, weil ihre Liebe zu Themar und die Sehnsucht nach der Stätte ihrer Vorfahren in all den Jahren ungebrochen geblieben ist.
Das wird auch am heutigen Montagvormittag, 4. September, um 9 Uhr so sein, wenn Stolpersteine für die Familien Rosenberg und Kahn verlegt werden. Zwölf Angehörige haben ihren Besuch angekündigt. Am Abend dann wird Lotte Schäfer, die 1934 geborene Tochter von Julius Rosenberg, in einem Vortrag Einblicke in die Geschichte der beiden Familien geben. Und das alles, um daran zu erinnern, was einst hier geschah.