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Die Juden in Themar: Ein Überblick 1860-2016

Sie waren Themarer 1860-1933

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Ausstellung November 2008

Als den Juden aus Thüringen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erlaubt wurde, ihren Wohnort zu wählen, wurden kleine Städte wie Themar zu Anziehungspunkten für Familien aus den nahegelegenen Dörfern, wie zum Beispiel Berkach, Bibra und Marisfeld. Am Ende der 1850er/Anfang der 1860er Jahre wohnten bereits vier Familien in Themar: die Familie Wertheimer, die Familie Walther, die Familie Schloss und die Familie Sachs. Am 18. März 1863 heiratete Babette Schloss, die Tochter von Gabriel Levi und Bertha Schloss (geb. Schloss), Otto Sachs aus Berkach. Dies war eine der ersten Hochzeiten in der jüdischen Gemeinde in Themar. Im Oktober 1864 wurde der gemeinsame Sohn, Gustav Sachs, in Themar geboren.

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Immer mehr Familien kamen nach. Sie sahen wirtschaftliche Vorteile: Die Stadt hatte sowohl einen Zugang zum Wasser (der Fluss Werra) als auch eine Bahnanbindung. Themar war außerdem größer als die kleinen Dörfer in der Gegend, aber dennoch nicht zu groß.

Die jüdische Gemeinde in Themar wuchs schnell. Die Menschen kamen aus vielen verschiedenen Dörfern in Thüringen. Die beiden Grünbaum beispielsweise – Noa und Löser – waren unter den ersten, die zusammen mit ihren Ehefrauen und Kindern aus Walldorf kamen. Einerseits waren es ganze Familien, die nach Themar zogen (zum Beispiel Löb und Jette Frankenberg, die in ihren Vierzigern waren und aus Marisfeld gemeinsam mit ihren sieben Kindern zuzogen), anderseits waren es Paare in den Zwanzigern, wie zum Beispiel Samuel und Charlotte Gassenheimer, die aus Bibra mit ihren zwei Kindern, Emma und Bernhard, kamen, und später noch acht Kinder in Themar hatten.

Insgesamt fanden wir bisher Spuren von über 370 jüdischen Menschen, die zwischen 1860 und 1943 in Themar gelebt hatten. Sie waren entweder hier geboren und/oder gestorben, bzw. hatten sie mehrere Jahre in Themar gelebt und sind dann woanders hingezogen. Auf jeden Fall kann man sagen, dass Themar eine Rolle in ihrem Leben gespielt hatte!

Im Jahr 1871 ergab eine Volkszählung, dass in Themar 93 Juden gelebt hatten. Das waren 6% der Gesamtbevölkerung (1.667 Personen). Im Jahr 1885 waren möglicherweise 6,7% der Bevölkerung jüdisch. 1932 waren nur noch 3% der Menschen in Themar jüdisch. Das bedeutet, da die Bevölkerungszahl von Themar (Juden sowie Nichtjuden) vom Jahr 1782 bis zum Jahr 1933 von 1885 auf 2935 wuchs, dass die Zahl der jüdischen Einwohner lediglich von 90 auf 100 Menschen stieg. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts waren die meisten Familien, die später eine wichtige Rolle in Themar gespielt haben, bereits etabliert. Es waren die Familie Baer, die Familie Frankenberg, die Familie Gassenheimer, die Familie Grünbaum, die Familie Hofmann, die Familie Kahn, die Familie Katz, die Familie Müller, die Familie Sachs, die Familie Schwab, die Familie Walther und nicht zuletzt die Familie Wertheimer.

In den 1870er Jahren gab es bereits sechs jüdische Geschäfte in Themar. Sie gehörten S. M. Müller, S. J. Baer, den Brüdern Frankenberg, A. Walther und Samuel Gassenheimer. Der lokale Textil- und Viehhandel (Rinder, Ziegen, Pferde) lag ausschließlich in den Händen dieser Familien. Diese waren auch im Reisegewerbe stark vertreten.

Wie auf dem Stadtplan unten zu sehen ist, wohnten die Familien in der ganzen Stadt verteilt. Kaufleute, wie die Familie Baer, später die Familien Stern, Müller und Grünbaum, siedelten sich dagegen im Zentrum der Stadt an. Sie wohnten entweder am Marktplatz oder in der Hinterstraße, die später in Bahnhofstraße umbenannt wurde, und die vom Marktplatz zum Bahnhof von Themar führte.Die Viehhändler, wie die Familie Frankenberg, wohnten in anderen Straßen wie Oberstadtstraße oder Mangergasse.

Es gab also eine blühende jüdische Gemeinde in Themar. Zunächst gab es noch keine Synagoge; ein kleiner Saal im Haus des Schuhmachermeisters Blau an der Werrabrücke wurde gemietet. 1870 wurde im Haus von Abraham Walther, einem Juden, in der Oberstadtstraße (heute Ernst-Thälmann-Straße 17) ein Betsaal eingerichtet, der zugleich auch für schulische Zwecke benutzt wurde. Im Jahr 1877 wurde mit der Einweihung der Synagoge offiziell eine jüdische Gemeinde gegründet. Sie hatte mit großer Wahrscheinlichkeit eine Mikwe. Die Verstorbenen wurde allerdings weiterhin auf dem jüdischen Friedhof in Marisfeld beigesetzt. Im Jahr 1894 wurde das untere Stockwerk des Hauses in der Hindenburgstraße 17 gekauft und dort eine jüdische Schule mit einer Lehrerwohnung eingerichtet. Zwischen 1900 und 1909 war Hugo Friedmann der Lehrer; sein Nachfolger war Moritz Levinstein.

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Alles wurde anders 1933-1941
Leider wurde nach dem Jahr 1933 alles anders: Bis zum Jahr 1933 wohnten ungefähr 75 Juden (2,5% der Bevölkerung) in Themar. Im Jahr 1935 listete der damalige Bürgermeister der Stadt Dr. Fritz Schorcht die Mitglieder der Gemeinde auf. Es waren 71 Namen. Am 7.März 1938 (acht Monate vor dem 9./10. November, der Reichspogromnacht) enthielt die Liste nur noch 48 Namen. Unter dem ständigen Druck und der Verfolgung durch die Nationalsozialisten hatten sich viele Themarer Juden entschieden, in andere Städte Deutschlands zu ziehen, bzw. Deutschland ganz zu verlassen. Nach der Reichspogromnacht sind noch mehr weggezogen.

Im Oktober 1939, nach dem Beginn des Krieges, waren mindestens 40 Menschen in der kleinen Stadt Themar von den Nazirassegesetzen betroffen. Sie waren meistens Mitglieder von Familien, die seit 70 Jahren in Themar gelebt hatten. Es waren die Enkel von Salomon und Karoline Müller: Max Müller I und seine Frau, Frieda (geb. Freudenberg), Max Müller II und seine Frau Clara (geb. Nussbaum); auch ihr ältester Sohn Herbert und dessen Frau Flora Müller (geb. Wolf); Hugo Grünbaum, dessen Frau Klara (geb. Schloss) sowie deren Tochter Else Neuhaus mit ihrem Mann Arthur und deren zwei Jahre alter Tochter Inge; die Schwestern Sara Frankenberg und die verwitwete Meta Krakauer (geb. Frankenberg) und ihre Schwägerin Klara Frankenberg (geb. Bauer); die Tochter von Hulda und Josef Kahn, Elsa Rosenberg, ihr Mann Markus und deren Sohn Julius. Die zuletzt zugezogene jüdische Familie war das Ehepaar Bachmann, Alma und Max, das vor dem ersten Weltkrieg nach Themar gekommen war.

Von den nazistischen Rassegesetzen, die 1935 in Nürnberg verabschiedet worden waren, waren auch weitere 12 Menschen betroffen, die ebenfalls  zu alteingesessenen jüdischen Familien gehört hatten, allerdings mit Nichtjuden verheiratet waren und mit ihnen Kinder hatten: Die Familien Walther und Kahn gehörten zum Beispiel zu solchen Familien. Mehrere der jungen Walther-Männer dienten in den frühen Jahren des 2. Weltkrieges in der deutschen Armee. Erna Kahn heiratete Hermann Haaß Mitte der zwanziger Jahre und konvertierte zum Protestantismus. Ihre Kinder, die Zwillinge Günter und Johanna, wurden im Jahr 1928 geboren. Auch zwei von Ernas Brüdern hatten Kinder mit nichtjüdischen Frauen: Ernas Bruder Julius Rosenberg heiratete Elsa Pabst im August 1933. Ihre Tochter Lotte wurde im Jahr 1934, d.h. noch bevor die Nürnberger Gesetze verabschiedet wurden, geboren.

Auch außerhalb von Themar, aber ebenfalls in Deutschland, bzw. in den besetzten Gebieten in Europa, lebten mindestens 140 Mitglieder von jüdischen Familien aus Themar. Und wir wissen noch von weiteren  Einzelpersonen, deren Geburtsdaten vermuten lassen, dass sie im Jahr 1941 gelebt hatten. Leider wissen wir nichts über ihre Schicksale.

Muller LettersZwischen Dezember 1938 und 08. Mai 1942 schrieben Clara und Max Müller II regelmäßig an ihre beiden bereits ausgewanderten Söhne, Meinhold in Schweden und Willi in Palästina. Nur der älteste der drei Söhne, Herbert, war anfangs noch bei seinen Eltern in Themar, ehe er im Juli 1941 mit seiner Frau Flora entkommen konnte. 44 dieser Briefe und Postkarten sind erhalten und können uns heute ein bisschen Aufschluss darüber geben, wie das Leben des Ehepaars in Themar ausgesehen hatte. Aus den Briefen erfahren wir außerdem auch über das Leben von anderen Themarer Juden und über das Leben der Verwandten in anderen europäischen Ländern, die bereits von den Deutschen besetzt worden waren. Wenn man genauer hinsieht, handelt es sich in den Briefen hauptsächlich um eine verzweifelte Suche nach einem Ausweg aus der sich immer fester zuziehenden Schlinge der Nazipolitik.

Wir erkennen die Sorgen, ja gar die Verzweiflung, die durch die NS-Maßnahmen in der Gemeinde herrschten. Wir können außerdem nachverfolgen, wie die jüdischen Menschen nach einem Ausweg suchten.

Zwischen Oktober 1939 und dem 15. Oktober 1941 waren nur neun der Themarer Juden in der Lage, die wertvollen Visa zu erhalten, um der Hölle zu entkommen. Herbert und Flora Müller, Frieda Wolf (geb. Mayer) und ihre Schwester Nanett Levinstein (geb. Mayer), Elli Plaut (geb. Baer) und ihre Tochter Hanna Karola, wurden in verplombten Eisenbahnwaggons durch Frankreich nach Barcelona und auch Lissabon geschleust, von wo aus sie an Bord der „Villa Madrid“ und der S.S. „Mouzinho“ in die Vereinigten Staaten gelangten. Elli Plaut und ihre Tochter gehörten zu den letzten Juden, die Europa verlassen konnten, bevor die Nationalsozialisten ihren ganzen Hass an den deutschen Juden ausließen.

Die Deportation der jüdischen Menschen aus Themar im Jahr 1942
Mitte September 1941 gab Hitler den Befehl zur Deportation der deutschen Juden in den Osten. Am 15.  Oktober 1941 begann eine Serie von Transporten aus dem „Altreich“ in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz). Ein Jahr später waren die meisten Themarer Juden deportiert. Sie wurden sowohl in die Ghettos und Vernichtungslager in den Osten geschickt, als auch nach Theresienstadt, dem Ghetto, das als „Altersghetto“ für ältere Juden über 65 bezeichnet wurde, in dem man die Menschen für eine kurze Zeit bis zum Weitertransport nach Auschwitz zusammenpferchte.

Die Vorbereitungen für die Deportation thüringischer Juden waren bereits am 4. November 1941 abgeschlossen, als der Reichsminister der Finanzen den regionalen Behörden Folgendes mitteilte:

,,Betreff: Abschiebung der Juden
Allgemeines. Juden, die nicht in volkswirtschaftlich wichtigen Betrieben beschäftigt sind, werden in den nächsten Monaten in eine Stadt in den Ostgebieten abgeschoben. Das Vermögen der abzuschiebenden Juden wird zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Es verbleiben den Juden 100 RM und 50 Kilo Gepäck je Person.”

Im Frühjahr 1942 wurden die thüringischen Juden über den Abtransport benachrichtigt. Am 8. Mai 1942 schrieben Max Müller II und Clara Müller an ihren Sohn Meinhold, der in Schweden lebte:

,,Lieber Meinhold!
Wie wir bereits schrieben, verreisen wir morgen früh mit Familie Neuhaus.
Eine Adresse können wir Dir nicht angeben, sobald es uns möglich ist,
geben wir Dir unsere neue Adresse an. Inzwischen schreibe an Onkel Max.
Da es sehr eilig geht, schreibe ich heute kurz.
Viele Grüße Dein Papa.

Innige Küsse Mama.’’

Am 9. Mai wurden sie nach Weimar transportiert und am 10. Mai weiter nach Leipzig, wo Juden aus Leipzig und aus anderen Städten und Dörfern Sachsens in die Waggons gepfercht wurden. Unter den Menschen auf diesem Transport befanden sich 26 Juden, die eine Verbindung zu Themar hatten. Der Transport mit insgesamt 1.002 Personen fuhr 1.100 Kilometer nach Bełżyce und kam dort am 12. Mai 1942 an. Im Oktober 1942 wurde das Ghetto Bełżyce zum Arbeitslager umfunktioniert. Dabei wurden diejenigen, die nicht arbeitsfähig waren, entweder im Ghetto selbst ermordet oder in eines der Vernichtungslager gebracht (Sobibor, Belzec oder Majdanek). Im Mai 1943 wurden diejenigen, die zu dem Zeitpunkt noch immer im Ghetto Bełżyce waren, entweder in die Arbeitslager in Krasnik oder in Budzyn gebracht.

Die zweite Deportationswelle aus Themar erfolgte am 20. September 1942. Sieben Juden waren direkt betroffen: Meta Krakauer, geb. Frankenberg und ihre Schwägerin Klara Frankenberg, geb. Bauer, Hugo und Klara Grünbaum, geb. Schloss, Max Müller I und seine Frau Frieda, geb. Freudenberg sowie Markus und Else Rosenberg, geb. Kahn. Sie wurden erst nach Weimar transportiert und dort in einem Zug mit anderen 357 Juden aus Thüringen zusammengepfercht. In Leipzig kamen noch 520 Juden hinzu. Das Endziel dieser Fahrt war die Ortschaft Bauschowitz, da das Ghetto Theresienstadt bis Sommer 1943 keinen eigenen Bahnanschluss hatte. Die Häftlinge mussten die drei Kilometer bis zum Ghetto Theresienstadt zu Fuß und unter Bewachung zurücklegen.

Wie bei der Deportation nach Bełżyce waren auch in diesem Fall viele Juden mit einer Verbindung zu Themar betroffen. Mindestens 61 Familien Angehörige wurden zwischen dem 26. Juni 1942 und Februar 1945 aus verschiedenen Orten innerhalb des besetzten Europas nach Theresienstadt deportiert. Die ersten von diesen „Themarer Juden“ waren Georg und Rudolf Gassenheimer. Beide wurden in Themar geboren und waren jeweils mit den Schwestern Selma und Tekla Schwab aus Berkach verheiratet. Im Februar 1945 wurde die letzte Themarer Jüdin nach Theresienstadt deportiert — Doris Lorenzen (geb. Frankenberg). Sie hatte in Dinslaken gewohnt, wo ihre „privilegierte Mischehe“ sie einigermaßen geschützt hatte.

Nanny Steindler (geb. Rindsberg) war die erste Themarer Jüdin, die starb, zehn Tage nach ihrer Ankunft, im Alter von 88 Jahren. Im Laufe des Jahres 1942 sind zehn weitere Menschen dem Hunger und dem Typhus erlegen. Im Jahr 1943 starben noch 12 Juden aus Themar. Unter ihnen Max Müller I und seine Frau Frieda. Beide starben jeweils im November 1943.

Im September 1943 wurden die ersten beiden Themarer Juden nach Auschwitz gebracht. Im Jahr 1944 folgten weitere 19 Personen. Fünf von ihnen waren Frauen wie Else Rosenberg (geb. Kahn). Diese wurde nach dem Tod ihres Mannes Markus nach Auschwitz gebracht, um dort ermordet zu werden. Als das Ghetto am 8. Mai 1945 befreit wurde, blieben fünf Themarer Jüdinnen – Minna Frankenberg (geb. Gassenheimer), Helene Gassenheimer (geb. Hirsch), Hulda Grossmann (geb. Bär), Meta Krakauer (geb. Frankenberg) und ihre Nichte Doris Lorenzen — am Leben. Auch Hulda Grünbaum (geb. Schlesinger) hatte auch überlebt. Niemand von denen, die nach Auschwitz deportiert worden waren, kam zurück.

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Manfred Rosengartens Stadtplan 1983. Quelle: Vancouver Holocaust Education Centre.

„Der Heilungsprozess kann beginnen“
Im Jahr 1921 wurde ein Junge namens Manfred Rosengarten in Themar geboren. 62 Jahre später beschloss er in Martinez in Kalifornien, wo er lebte, ein Fotoalbum über Themar, das er fast 50 Jahre vorher verlassen hatte, zu erstellen. Das Album sollte für seine Kinder und Enkelkinder sein. Ein paar Bilder waren mit ihm und seiner Familie im Jahr 1939 nach Shanghai und anschließend im Jahr 1947 weiter nach Kalifornien gekommen. Aber Manfred wollte mehr Bilder von Themar für sein Album haben. Als die Schwester eines kalifornischen Freundes, die in Dresden wohnte, anbot, nach Themar zu fahren und dort Fotos zu machen, sah Manfred seine Chance. Um der Frau genau zu zeigen, welche Motive er haben wollte, zeichnete Manfred für sie einen Stadtplan. Er fing damit an einem Abend um 21.00 Uhr an und arbeitete bis um 4.00 Uhr morgens am nächsten Tag. Am Ende hatte er einen Stadtplan von Themar, so wie die Stadt im Jahr 1936 ausgesehen hatte. Er zeichnete alles bis ins kleinste Detail. Nach ein paar Monaten bekam Manfred seine Fotos. Er bekam außerdem das Angebot, den Kontakt mit den Menschen aus Themar herzustellen, die sich an ihn und seine Familie erinnern konnten.

Manfred ging auf das Angebot ein und pflegte den Briefkontakt zu seinen ehemaligen nicht-jüdischen Schulfreunden bis zum Ende seines Lebens im Jahr 1987. Manfred bekam auch weitere Fotos und Ansichtskarten für sein Album. Manfreds Absicht war es, aus dem Gedächtnis heraus die Geschichte einer kleinen Stadt zu erzählen, ihrer Menschen, ihrer Entwicklung, ihrer Juden und sogar einige ihrer geologischen und anthropologischen Merkmale. „Ich werde“, schrieb er, ,,über einige Juden im Zusammenhang mit den Bildern ihrer Häuser berichten.” Er war erfolgreich, und das Ergebnis ist ein ganz einzigartiges Dokument. Die Fotos, die Ansichtskarten und die Kommentare bieten uns einen spannenden Einblick in das Leben in Themar zwischen den Jahren 1921 und 1936, als die jüdische Gemeinde noch immer eine wichtige Rolle spielte.

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Linda Rosengarten, rechts, u. Sabine Müller, Schulleiteiterin Themar am 10. Mai 2013

Im Jahr 2011 lud die Stadt Themar die Nachkommen der ehemaligen Mitglieder der jüdischen Gemeinde Themar ein, die Stadt ihrer Vorfahren zu besuchen. Manfreds Tochter Linda Rosengarten kam. Als sie fünf Tage später wieder nach Hause fuhr, sagte sie zu dem Bürgermeister: ,,Lassen wir den Heilungsprozess beginnen.” Und der Prozess begann. Zwei Jahre später kam Linda wieder nach Themar und verlegte vier Stolpersteine für die Familie ihres Vaters in Themar. Sie sagte:

,,Als ich zusagte, hierher zu kommen, hatte ich gemischte Gefühle. Um ehrlich zu sein, war ich aufgeregt bei der Vorstellung, nach Europa zu reisen, weil ich von diesem Ereignis herausgefordert wurde. Aber es ist meine Pflicht, hier zu sein, weil ich Manfred Rosengartens Tochter bin. Seine Briefe sind ein wichtiger Teil des Versöhnungsprojektes von Themar, welches ich respektiere und bewundere. Wie auch immer, meine Erinnerungen sind die eines Mädchens, das als Kind eines sehr traumatisierten Mannes aufgewachsen ist.

Aber es ist fast 75 Jahre später. Ich bin 62 Jahre alt, im gleichen Alter, in welchem mein Vater seinen ersten Brief schrieb und Manfred starb vor über 25 Jahren. Ich umarme Sie und bin dankbar für Ihre Einladung, weil ich die Erbin von Manfreds Erinnerung bin. Und ich bin die Erbin seiner Hoffnung. Daher bitte ich Sie heute hier darum, mit mir den Wandel zu machen und die Hoffnung meines Vaters zu teilen, indem wir uns in das heilende Licht von Anerkennung, Erinnerung, Versöhnung und Hoffnung begeben. Das, an was wir uns heute erinnern, wird unsere Kinder inspirieren. Und vielleicht können wir die Welt mit unserem Kleinstadtmodell versorgen, um traumatisierte und nun gesundende Menschen in eine bessere Zukunft zu schicken.”

Seit 2013 ist Günter Demnig noch zweimal nach Themar gekommen, um weitere Stolpersteine zu verlegen Im Jahr 2014 wurden noch sieben Stolpersteine verlegt. Den einen Stolperstein setzten die Schüler der Staatlichen Regelschule „Anne Frank“ in Erinnerung an Moritz Levinstein, den früheren Lehrer der Bürgerschule.Stolperstein 2014 Den anderen Stolperstein verlegten die derzeitigen Besitzer des ehemaligen S.M. Müller-Warenhauses, um Max und Frieda Müller und deren Kinder, Martha und Semi, zu ehren. Im Jahr 2015 wurden noch 11 Stolpersteine für die Familien Max Müller II und Stern und Klaut verlegt. Wir glauben, dass der Heilungsprozess in der Tat weitergeht.

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