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Die ersten ,Stolpersteine‘ in Themar, 10. Mai 2013

Stolpersteine Linus Wittich

Sehen Sie auch: Poul Müller, ,,Viel gelernt über die eigene Geschichte.“ 

Linda Rosengarten hat am 10.Mai 2013 folgendes gesagt: 

,,Vielen Dank Ihnen, Bürgermeister Böse, Sabine Müller und Themar trifft Europa, sowie Sharon Meen, der Historikerin, die die jüdischen Familien von Themar wieder zum Leben erweckt hat.

DSCN1248Lassen Sie mich einen besonderen Dank sagen an Iris Gleicke, die Familien Böse und Morgenroth und die einzelnen Mitglieder von „Themar trifft Europa“ für ihre Großzügigkeit, die Verlegung dieser 4 Stolpersteine hier an dieser Stelle zu finanzieren.

Ein Dank gilt auch Ihnen, Gunter Demnig. Sie sind ein Visionär. Die Erinnerung ist für uns eine heilige Pflicht. Sie tun eine heilige Tat, eine heilige Pflicht mit jedem Stolperstein, den Sie setzen.

Wie Sie gute Menschen hier wissen, ist Herr Demnig der Künstler, der sagte, dass ,,eine Person nur vergessen ist, wenn ihr Name vergessen ist.“

Herr Demnig kreiert Stolpersteine, um an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Steine, ähnlich diesen hier, wurden schon an über 600 Stellen in Deutschland als auch in Österreich, Ungarn, den Niederlanden, Belgien, Tschechien, Norwegen und der Ukraine verlegt.

Linus Wittich Themar

Gunter Demnig schafft mit diesen kleinen Steinen eine Intimität in der Öffentlichkeit. Eine Botschaft wird damit immer wieder durch die Straßen Europas getragen, getragen nur vom Namen einzelner Personen, einzelner Orte, einem Zuhause.

Durch das Erkennen eines Namens, einer Wohnanschrift — Bahnhofstraße 7 — können wir persönlich mit meiner Oma Berta, meinem Opa Paul, meinem Onkel Erich und meinem Vater Manfred Rosengarten in Verbindung treten. Sie gingen jeder genau diese Straße entlang, sie standen an genau dieser Stelle.

Ich bin heute hier mit Poul und Arne Müller. Poul und Arne sind die Kinder von Julius Müller. Ihre Tante Frieda, Julius‘ Schwester, heiratete Oskar Schwab, der mein Großonkel und auch der Bruder meiner Oma Berta war.

Eines haben wir drei gemeinsam mit Ihnen hier in Themar — wir sind seit Generationen mit dem gleichen Boden verwurzelt. Viele von uns haben Familienmitglieder auf Friedhöfen in der Nähe begraben.

Das Setzen dieser Stolpersteine ​​ist ein wichtiger Teil der Anerkennung und der konsequenten Auseinandersetzung mit den Lehren aus der Geschichte.

Ich bin stolz, zur Teilnahme gebeten worden zu sein, und ich bin stolz, dass mein Vater, Manfred, so viel mit diesen Bemühungen zu tun hatte.

Ein Dankeschön geht an Themars erste feierliche Durchführung des Yom Hashoa — dem Tag der Erinnerung an den Holocaust — am 28. April 2011 – wo Poul, Arne und ich uns zum ersten Mal trafen. Davor wusste ich nicht, dass meine Cousins Poul und Arne existierten!

Wie Sie vielleicht wissen, ergriff Fritz Stubenrauch vor einigen Jahren die Initiative, vor der Friedhofskirche ein Denkmal für alle Opfer von Gewaltherrschaften zu errichten, welches auch die Juden von Themar einschließt. Es gibt auch ein solches Denkmal in Schleusingen.

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Zusammen mit diesen zwei Denkmalen ​​erinnern uns die Stolpersteine an einzelne Menschen.

Ja, aber sie erinnern uns auch daran, dass heute Kinder von Opfern und Kinder von Tätern hier sind — alles Kinder von Überlebenden des Nationalsozialismus.

Das Ausmaß und die Auswirkungen der Geschichte bedeutet, dass unsere Geschichten und Identitäten uns schon vor unseren Geburten eingehaucht wurden — viele von unseren eigenen Geschichten sind schon erzählt —und sie verdunkeln jede Geschichte, die wir für uns selbst schreiben könnten.

Wir erbten unsere Geschichte in einer einzigartigen Art und Weise, nicht nur das Ergebnis der Einwanderung oder Auswanderung und sicherlich nicht nur Genealogie oder Stammbaum.

Wir erbten etwas anderes — etwas emotionelleres, dramatischeres — eine Geschichte, die weit über eine Familie oder auch nur eine Person hinausgeht.

Unsere Identitäten sind durch die Worte — Opfer-oder-Täter — beschrieben. Keines davon ist schmeichelhaft.

Die Geschichten unserer Eltern und Großeltern überschatten unsere eigenen, individuellen Geschichten. Wir alle waren Kinder mit einem Weg, der bereits begangen wurde, einer Identität jenseits Familiennamen und jenseits des Geburtsortes.

Doch obwohl – oder vielleicht weil – die Geschichten unserer Eltern unsere eigene Identität überschatten – wir und unsere Kinder halten und sind verantwortlich für die Vergangenheit unserer Eltern und Großeltern, die einmalig ist für Kinder von Überlebenden.

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Vor noch nicht langer Zeit galten Juden als „die anderen“ hier in Europa. Wie auch immer, mancherorts sind wir immer noch Opfer und werden als die „anderen“ angesehen. Opfer sind in gewisser Weise auch „die anderen“.

Die Täter, wie auch immer, galten auch als „die anderen.“

Dieses Brandzeichen „die anderen“ wird über Generationen hinweg ertragen werden müssen. Ich weiß, wie schwer das zu ertragen ist und ich weiß, wie tief drinnen es schmerzt.

Im Fall von uns heute hier, wir erinnern uns für unsere Eltern, mit jenen Erinnerungen hatten wir nichts zu tun. Als Nachkommen tragen wir alle unser eigenes Trauma. Wir haben ein gemeinsames Trauma.

Heute, wo wir Zeuge der Installation dieser Gedenkstätte für vier Themarer werden – erinnert zu werden ist das eine – heute werden wir aktiv – ein Stein, eine Person.

Wegen der Kraft des Engagements von Themar, kann ich darauf vertrauen, dass die Vergangenheit sich hier nicht wiederholt werden wird, und auch deswegen, weil wir zusammen erkennen, dass wir ein Trauma teilen.

Und doch- Trauma ist eine Fessel. Es tut mir weh. Es tut Poul und Arne weh. Und es tut Ihnen weh.

Wie wir heute hier stehen, haben wir die Möglichkeit zusammen zu kommen, da wir versuchen, uns von unserem gemeinsamen Trauma zu heilen. Wie kann mein Trauma ohne Ihr Wissen über die Vergangenheit heilen? Wie kann Ihr Trauma heilen, ohne dass ich Ihre Schritte bezeuge, sich zu erinnern, dass mein Vater hier geboren wurde, aufwuchs und dann aus dieser seiner Stadt floh?

Heute, hier in Themar, fühle ich mich nicht als ein Opfer. Meine Identität hat sich verschoben, ich bewege mich vorwärts.

Ich entschuldige mich, wenn ich weine. Aber meine Tränen sind heute nicht bitter. Meine Tränen heute sind gefüllt mit heilender Erleichterung.Deshalb danke ich Ihnen, denn meine Tränen sind nützlich. Ich bewege mich vorwärts und ich hoffe, Sie tun es auch.

Archiv_159:Uhrmacher Saam Haus_3

Alles begann vor über 25 Jahren, mit einem Brief von meinem Vater nach Themar. Er war mutig, den ersten Brief im Jahr 1983 an Herrn Saam, den Uhrmacher zu schreiben. Es begann alles mit einem Wort – und einer Sehnsucht, ob dieser Brief beantwortet werden würde. Vier Jahre lang, bis November 1987, als Manfred starb – wurden Briefe hin und her geschickt – vonMartinez, Kalifornien, wo meine Eltern lebten, nach Themar, Thüringen und von Themar nach Martinez, Kalifornien. Die Versöhnung begann im Jahr 1983.

Obwohl Manfred das Glück hatte, mit seinem staatenlosen Dokument aus Deutschland zu fliehen, wollte er etwas tun gegen sein Schuldgefühl des Überlebenden und wollte auch sein brilliantes Erinnerungsvermögen, mit dem er verflucht, aber auch gesegnet war, besser verwenden. Was Manfred besaß, war der Glaube an das Gute, das der menschlichen Art innewohnt. Genau wie wir es heute hier sehen. Manfred Rosengarten besaß Hoffnung. Sogar im Widerspruch zu den Worten der Hoffnungslosigkeit, die er zu seinen Kinder sagte.

In seinen Briefen nach Themar verwendete Dad die Worte Heimweh und Nostalgie. Trotz allem, was mein Vater und andere Juden erlebten, war Manfred ergriffen von Heimweh und Nostalgie nach diesem kleinen Themar.

Was ist Nostalgie, wenn nicht Hoffnung! Ich glaube, eine von Manfreds Hoffnungen war in der Tat, dass sich die Menschen von Themar an ihn erinnern und dass Themar seine Vergangenheit bestätigen würde. Und wir sind heute hier und tun genau das durch das Legen dieser Stolpersteine. Wir sind heute hier zu versuchen, uns zu heilen. Ich glaube, Heilung ist der beste Weg, den ich kenne, sowohl für die Kinder der Täter als auch für die Kinder der Opfer, um vorwärts zu gehen. Es ist gut, damit zu beginnen.

Als ich zusagte, hierher zu kommen, hatte ich gemischte Gefühle. Um ehrlich zu sein, war ich aufgeregt bei der Vorstellung, nach Europa zu reisen, weil ich von diesem Ereignis herausgefordert wurde. Aber es ist meine Pflicht, hier zu sein, weil ich Manfred Rosengartens Tochter bin. Seine Briefe sind ein wichtiger Teil des Versöhnungsprojektes von Themar, welches ich respektiere und bewundere.

Wie auch immer, meine Erinnerungen sind die eines „Aufwachsen-als-ein-Kind“ von einem sehr traumatisierten Mann. Aber es ist fast 75 Jahre später. Ich bin 62 Jahre alt, im gleichen Alter, in welchem mein Vater seinen ersten Brief schrieb und Manfred starb vor über 25 Jahren. Ich umarme Sie und bin dankbar für Ihre Einladung, weil ich die Erbin von Manfreds Erinnerung bin. Und ich bin die Erbin seiner Hoffnung. Daher bitte ich Sie heute hier darum, mit mir den Wandel zu machen und die Hoffnung meines Vaters zu teilen, indem wir uns in das heilende Licht von Anerkennung, Erinnerung, Versöhnung und Hoffnung begeben. Das, an was wir uns heute erinnern, wird unsere Kinder inspirieren. Und vielleicht können wir die Welt mit unserem Kleinstadtmodell versorgen, um traumatisierte und nun heilende Menschen in eine bessere Zukunft zu schicken. Vielen Dank.“

FW.11.05.13 Themar